Wer ist schuld? Der Lehrer!
Ein Kommentar zum übersteigerten Erwartungsdruck von Eltern

Die Neuigkeit stürmt durch alle Familien in Deutschland. Der Schreck sitzt tief – die Hiobsbotschaft ist überall zu lesen: Laut der veröffentlichten PISA Studie ist Deutschland, das Land der Dichter und Denker, in der Bildung nur Mittelmaß! Stattdessen auf den ersten Rängen: Shanghai, Japan, Südkorea. Die deutschen Schüler können schlecht lesen, unzureichend rechnen und Probleme oft nicht bewältigten. Die unterschwellige Botschaft dabei: „Auch dein Kind könnte betroffen sein“. Mein Kind? Aber nicht doch! Mein Kind ist anders!
So in etwa sah die Situation in Deutschland 2001 aus. Das ist schon eine Weile her und seitdem hat sich in Deutschland viel bewegt. Nun gut – Lesen, Schreiben und Rechnen können die Schüler immer noch nicht. Aber dafür gab es eine gesellschaftliche Revolution beim Thema Bildung. Die Lösung: Mein Kind ist nicht schlecht im Lernen, mein Kind ist hochbegabt – ein unerkanntes Genie!
Unser Redaktionsmitglied Florie ist in meinen Augen das perfekte Beispiel für tatsächliche Hochbegabung. Zwar bezeichnet sie sich selbst nicht als hochbegabt, doch passt sie sehr gut in das Profil. Es begann alles auf der Hauptschule in Bühl. Florie war damals eine schlechte Schülerin. Die Noten waren bestenfalls „Ausreichend“, ihr Benehmen kaum zu ertragen. Doch durch einen Umzug und somit durch einen Wechsel auf die Realschule änderte sich ihre Situation drastisch. Eine schlechtere Note als „Sehr Gut“ brachte sie nicht mehr nach Hause. Überrascht waren alle von ihr, unglücklich hat es natürlich niemanden gemacht. So ging es weiter bis sie Schülerin der Anne-Frank-Schule in Rastatt wurde und ihr Abitur absolvierte. Ihr letztendlicher Notendurchschnitt: 1,0. Aktuell studiert Florie an der Universität Heidelberg Jura.
Von so einem kometenhaften Sprung, wie ihn Florie erlebt hat, träumen viele Eltern. Doch sind solche Lebensläufe eine Rarität und das aus gutem Grund. In Deutschland gibt es 2 %, die als hochbegabt gelten. Dabei gilt ein Grenzwert von 130 IQ-Punkten. Zu diesen zwei Prozent gehören auch Laetitia und Philipp Hahn. Die beiden Geschwister sind 14 und 8 Jahre jung und haben einen IQ von über 140. Laetitia, die Ältere, konnte bereits mit acht Wochen sprechen, hat drei Jahrgänge übersprungen und macht dieses Jahr Abitur. Auch ihr Bruder hat ähnliche Ambitionen, er hat eine Klasse übersprungen und spielt wie Laetitia virtuos Klavier von Bach bis Beethoven. Zumindest wird das in verschiedenen Medien erklärt. Die Beiden werden immer wieder als Paradebeispiele für Hochbegabte angeführt.
Solche Lebensläufe hören sich schön an. Sie pushen das Selbstwertgefühl. Offensichtlich hat Deutschland doch noch einige Dichter und Denker vorzuweisen. Aber warum dann nicht auch das eigene Kind auf die obersten Ränge zwingen? Die anderen Kinder als Ente und das eigene als Ferrari auf der Überholspur! MEIN KIND als Vorbild für andere! Als Klassenbestes, obwohl es das jüngste ist! Und ganz wichtig, das eigene Kind, das all das erleben kann, was sich die Eltern selbst gewünscht, aber leider verpasst haben! Was vor allem zählt, ist eine Quantitätsmaximierung. Fehler werden nicht zugelassen. Das wichtigste Aufputschmittel: die verbale Peitsche der Eltern.
Man könnte auch sagen: Der Zweck heiligt alle Mittel. Das ist die wichtigste Aussage im Machiavellismus, dem Frank-Underwood-Instinkt aus der Serie „House of Cards“. Es scheint so, als sei diese Einstellung nach dem PISA-Schock in Großteilen der deutschen Haushalte angekommen. Im Mathe-Unterricht würde es heißen: Forderung ist größer als Förderung. Doch die Eltern belassen es nicht dabei, sie entwickelten sich weiter. Nicht lange nach dem Streben, das Kind zum Supergenie zu erziehen bzw. zu erzwingen, wurden die „Helikoptereltern“ populär.
Erziehungsberechtigte, die auf jeden Fingergriff der Kinder achten und wie ein Helikopter dauerpräsent über dem Nachwuchs schwirren. Freiheiten werden dem Kind oder Jugendlichen nicht gelassen. Stattdessen wird es gefordert, gedrillt und – wir hoffen es nicht – gezüchtigt. Und das alles im Sinne der erfolgreichen Karriere. Mit dieser Formel lässt sich alles erreichen, meinen einige Eltern. Durch diese Herangehensweise müsse es doch möglich sein, dass sich aus dem Dreikäsehoch ein neuer Einstein entwickle. Andere Optionen und ein größerer Spielraum sind tabu. Doch was ist, wenn diese Bildungsformel nicht funktioniert, wenn das Kind trotz all der Mühe schlechte Noten mit nach Hause bringt? An der eigenen Methodik kann es ganz bestimmt nicht liegen. Somit bleibt eine letzte Erklärung übrig: der Lehrer ist schuld!
Zugegeben, Lehrer machen nicht immer den besten Job. Und manchmal machen sie auch einen wirklich beschissenen Job. Dennoch steckt hinter diesem Wesen eine Persönlichkeit mit viel Wissen, die dieses mit den Schülern teilen möchte. Beschränkt werden sie durch vorgegebenes Unterrichtsmaterial, das oft unvollständig ist und wahrscheinlich aus dem letzten Jahrtausend stammt. Und vielleicht ist der Unterrichtsaufbau manchmal besser, als man selber meint. Doch gibt man Lehrern oft keine Chance. Und zwar nicht aus einer Intention der Schüler heraus, sondern seitens der Eltern.
Da das eigene Kind der selbsternannte Stephen Hawking 2.0 sein muss, kann nur der Lehrer daran schuld sein. Dass die PISA-Studie seit Jahren keine guten Ergebnisse liefert, müsse an der Inkompetenz und Unterrichtsmethodik der Lehrer liegen. Das Kind hingegen ist das Engelchen, welches sein bestes gibt, brav in der Schule sitzt und versucht den Unterrichtsstoff von diesem Teufel von Lehrer aufzunehmen. Das kann es logischerweise nicht schaffen, wodurch sich schlechte Noten ergeben. Fängt die Biografie eines jeden Genies nicht genau so an? Verkannt in der Schule. Raus aus dem Bann der Lehrer ist ein neuer Einstein oder Steve Jobs entdeckt. Puh – geschafft. Die Kausalitätskette hat ihr Ende gefunden. Die Eltern können mit sich selbst im Reinen sein.
Die Realität? Eine verkümmerte Entwicklung von Jugendlichen, die zuhause genau das zu hören bekommen. Die Schüler ruhen sich entweder in der Schule aus, da sie wissen, dass nur der Lehrer und nie sie selbst von den Eltern schuldig gesprochen werden. Oder sie werden so erdrückt von der Last der Eltern, dass sie in der Pubertät möglichst viele Regeln und Gesetzte brechen, da sie nur noch so Freiheit verspüren. All das geht auf Lasten der Lehrer, Mitschüler und auf die Nerven der Eltern. Gewonnen hat am Ende niemand.
Deutschland braucht keine Superhelden in der Schule, die mit 15 ihr Abitur absolvieren. Wenn Schüler dies aus eigener Leistung herausschaffen – wie wunderbar. Aber dennoch, auch hochintelligente Abiturienten sind kaum in der Lage, direkt in das Leben zu starten. Bis zur Volljährigkeit wird an jeder Ecke und jedem Ende eine Unterschrift der Eltern benötigt, am Campus kann man abends durch die Minderjährigkeit nichts unternehmen. Eine Auslandsreise ist kaum möglich und Arbeitgeber bevorzugen ebenfalls volljährige Bewerber. Egal, wie man es dreht und wendet – einen Vorteil erlangt man dadurch kaum. Und wenn dies auch noch durch den Drill der Eltern geschieht, könnte es sein, dass der Jugendliche nur verliert. Sozialer Kontakt ist immens wichtig im Erwachsenwerden und für die Entwicklung. Wenn man aber nicht mit Freunden zusammen sein kann, sondern daheimsitzt, weil man lernen muss, läuft etwas gewaltig schief.
Dass Deutschland schlecht in den PISA-Studien abschneidet, bedeutet nicht, dass Jugendliche zur Leistung genötigt werden müssen. Erfolgreiche Schulsysteme wie in Skandinavien setzen genau auf das Gegenteil: Zuerst Persönlichkeitsentwicklung und dann Bildung. Wir brauchen keine pubertierenden Kompetenz-Zombies! Die zwar in der Lage sind, zu wissen, wo sie etwas googeln können, aber die keinen Menschen auf der Straße anzusprechen wagen. Natürlich, das ist äußerst überspitzt und pauschalisiert, aber wenn wir nicht bald etwas an unserem Umgang mit Leistungsdruck und vorläufiger Karriereplanung ändern, wird sich früher oder später die Erwartungshaltung entwickeln, dass Kinder und Jugendliche auf diese Weise gefordert werden müssten. Das würde erhöhten Stress fördern und die Beteiligten hätten weniger Chancen, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Stattdessen werden vielleicht sogar bewusstseinserweiternde Substanzen genommen, um diesen Druck zu bewältigen. Und dann wären wir bei der Bezeichnung eines Kompetenz-Zombies vielleicht gar nicht mehr so weit entfernt.