…wenn ich in Kabul geboren wäre
Von einem Kind, das nicht mehr Kind sein durfte
In unseren Schulen gibt es viele Flüchtlingskinder. Sie sind in Vorbereitungskursen oder gehen in unsere Klassen. Ich frage mich oft: Wie ist ihr Leben? Warum mussten sie aus ihrer Heimat fliehen? Was unterscheidet ihren Alltag, aber auch ihre Chancen von meinem Leben? Wie sieht ihre Zukunft aus? Eines dieser Flüchtlingsmädchen ist Muzhgan Hossinzadeh, 17 Jahre alt, und vor einem Jahr mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Geboren und aufgewachsen ist sie in Afghanistan. In der Nähe von Kabul. Jetzt lebt sie mit ihren Eltern und Geschwistern in Rastatt. Ich erzähle euch hier ihre Geschichte – und teile mit euch meine Gedanken. Eines ist mir noch deutlicher geworden: Ich bin sehr dankbar, in Deutschland geboren zu sein!
Wir sind fast gleich alt. Muzhgan und ich. Zwischen unseren Geburtsstädten liegen rund 5000 Kilometer – aber auch zahlreiche Unterschiede. Muzhgan konnte keinen Kindergarten besuchen, ihre Eltern hatten nicht genug Geld. Dazu kam ihre Angst, dass die Taliban eines ihrer Kinder töten würden. Ich dagegen habe einen katholischen Kindergarten besucht. Ich hatte die Möglichkeit, mit anderen Kindern in Kontakt zu treten, zu lernen, und mich auf die Grundschule vorzubereiten. All das blieb Muzhgan verwehrt. Die einzigen sozialen Kontakte, die sie knüpfen konnte, waren mit ihren Geschwistern. Keine Kindergarten-Freundschaften, keine Spiele mit anderen Kindern, keine Vorbereitung auf die Schule.
Obwohl die Taliban 2001 gestürzt worden waren, hatten Muzhgans Eltern große Angst: Dass die Taliban auch in ihr Dorf kommen würden. Dass sie eines ihrer Kinder verschleppen, vergewaltigen oder töten. Gleichzeitig wollte ihr Vater, dass seine Kinder, vor allem seine älteste Tochter Muzhgan, zur Schule gehen. Er selbst hatte dazu keine Chance. Sie sollten ein besseres Leben haben. Ein Abwägen von Chancen und Risiken. 2006 war es dann soweit: Muzhgan wurde mit sieben Jahren eingeschult.
Solche Ängste mussten meine Eltern natürlich nicht haben. Ich bekam eine Schultüte, einen neuen Schulranzen und alle notwendigen Schulsachen. Muzhgan bekam keinen Schulranzen. Sie hatte nur ein Heft. Bücher musste sie sich mit ihren Klassenkameraden teilen. Sie wusste nicht, dass andere Kinder auf der Welt, wie zum Beispiel ich, eine schöne Schultüte und einen Schulranzen zur Einschulung bekommen. Dass sie eigene Bücher haben. Ein Mäppchen voller Buntstifte. Wasserfarben. Ein Roller oder Fahrrad, mit dem sie zur Schule fahren können. All das wusste sie nicht. Jeden Tag ging sie mit Freude zur Schule. Endlich andere Kinder, andere Mädchen kennenlernen. Endlich Freundin sein können, und nicht nur Schwester oder älteste Tochter, die im Haushalt mithelfen muss. Endlich raus aus den vier Wänden, wenn auch nur für ein paar Stunden. Ihre Freude war aber auch immer mit Angst und Vorsicht verbunden. Die Taliban waren weiter präsent, erzählt sie mit leiser Stimme. Das wusste jeder. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder vermehrt in ihrem Stadtteil auftauchen würden.
Seit sie denken kann, sagt Muzhgan, möchte sie Polizistin werden. Einen interessanteren und spannenderen Beruf kann sie sich nicht vorstellen. Menschen helfen, sich für Gerechtigkeit einsetzen und Schutz bieten. Das ist ihr Wunsch, unterstützt von ihrem Vater und ihrer Mutter. Auch meine Eltern fördern meine Pläne. Kindliche Phantasien und Träume. Ich wusste schon sehr früh, dass ich einen Beruf möchte, mit dem ich mich für Menschen einsetzen kann. Eine Gemeinsamkeit, die Muzhgan und mich verbindet. Die zwei Kinder verbindet. Kinder auf unterschiedlichen Kontinenten. Aus unterschiedlichen Ländern. Mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Ich habe alle Möglichkeiten, meine Vorstellungen umzusetzen. Ich mache gerade mein Abitur. Ich habe die Freiheit zu entscheiden, an welcher Universität ich Jura studieren möchte. Ich habe die Wahl, wo ich hinziehe. Es liegt alles an mir. Muzhgan hat dagegen kein System, das ihr hilft, dass ihr alle Freiheiten ermöglicht.
Wie ungerecht ihr Leben von Geburt an ist, zeigt mir ihre Geschichte. In der 5. Klasse wird die Lage immer angespannter. Die Eltern fürchten sich immer mehr, ihre Kinder in die Schule gehen zu lassen. Die Taliban sind wieder da. Mädchen sollen nicht mehr die Schule besuchen, sonst drohen die Terroristen mit drastischen Konsequenzen. Eines Tages wird die Gefahr zur Realität. Muzhgans Klassenkameradin wird auf offener Straße von den Taliban erschossen. Beide Mädchen waren auf dem Weg nach Hause. Ihre Freundin ist zehn Jahre alt. Muzhgan muss die Tat mit ansehen, wie der kleine leblose, blutüberströmte Körper auf der Straße liegt.
Ich muss schwer schlucken, als sie mir das erzählt. Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Mit zehn habe ich auf dem Abenteuerspielplatz gespielt. Ich habe nicht über den Tod nachgedacht, er spielte in meinem Leben keine Rolle. Muzhgan sitzt mir mit tränenerfüllten Augen gegenüber. Ich bin entsetzt, fassungslos, unendlich traurig. Das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist, dass hunderttausend Kinder bestimmt Ähnliches erlebt haben. In ihren Kriegs- und Krisengebieten, mit dem Tod vor Augen, auch auf der Flucht. Kinder, die nicht mehr Kinder sein können. Unbeschwert, frei in ihren Gedanken und Träumen. So wie ich meine Kindheit in Deutschland erlebt habe.
Muzhgan hatte gerade erst Freundschaften geknüpft. War überglücklich darüber, weil die Schule der einzige Ort war, um mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten. Auf den Straßen war das nicht möglich. Kein Seilspringen. Kein Fußballspielen. Kein Spazierengehen. Keine Kinobesuche. Kein Eis essen. Gar nichts. Sobald die Schule aus war, ging es ganz schnell nach Hause. Bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
An dem Tag, als Muzhgans Freundin erschossen wurde, war ihren Eltern klar, dass die Lage zu gefährlich ist. Muzhgan ging noch bis zum Ende der fünften Klasse zur Schule, das wollte sie unbedingt. Danach nicht mehr. Sie hat sehr viel geweint. Sie wollte ihre Freunde wieder sehen. Einfach nur raus gehen. Von Tag zu Tag rückte ihr Traum, Polizistin zu werden, immer mehr in die Ferne. Sie half ihrer Mutter im Haushalt. Lenkte sich mit ihren Geschwistern ab. Sie hatte Spaß. Und trotzdem sehnte sich immer noch ein Teil von ihr nach der Schule.
Zeitgleich war ich natürlich in der Schule. Ich war fleißig. Ich wusste, dass ich privilegiert bin. Dass ich diese Möglichkeiten nutzen muss. Meinen Eltern war es immer sehr wichtig, dass ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen kann, hier aufzuwachsen. Immer wieder habe ich mir vor Augen geführt, dass im selben Moment Kinder in anderen Ländern alles dafür tun würden, um in ihrer Klasse zu sitzen.
Drei Jahre hat Muzhgan zu Hause verbracht, bis die Lage in Afghanistan komplett außer Kontrolle geriet. Der Vater wurde von den Taliban bedroht und geschlagen. Er musste handeln, um seine Familie in Sicherheit zu bringen. So folgte die Flucht nach Deutschland. Der Krieg hat zwar dazu geführt, dass Muzhgan ihre Heimat verlassen musste. Dafür kann sie jetzt wieder zur Schule gehen. Und das macht sie sehr glücklich.
Muzhgans Leben zeigt mir: Vieles im Leben können wir nicht beeinflussen. Der Zufall, wo wir geboren werden, was um uns herum geschieht, welche Chancen wir geboten bekommen. Und doch: der Glaube an sich selbst, Träume und Motivation, Ehrgeiz – das sind die Zutaten, um seinen eigenen Weg zu finden. Bildung öffnet einem Türen zu Welten, die man sich gar nicht vorstellen kann. Jeder einzelne kann dazu beitragen, dass um ihn herum keine Ungerechtigkeit, sondern Chancengleichheit herrscht. Sich dafür einsetzen und anderen helfen, macht einen stolz. Es fängt damit an, dass man Interesse am Leben anderer Menschen zeigt und sich ihre Lebensgeschichte anhört. Das verhindert Vorurteile und Ressentiments. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte – und jeder sollte das Recht haben, sein Leben ohne Angst und Gewalt zu gestalten.