Wenn ein Vorbild zur Qual wird
Bloß nicht am Vergleich mit dem Besseren verzweifeln
Der Mensch vergleicht sich von Natur aus, aus Angst vor Konkurrenz und um sich selbst von anderen zu differenzieren. Für einen Neandertaler war es notwendig, durch den Vergleich zu erkennen, dass ein anderer stärker ist. So konnte er die weise Entscheidung treffen, ihn vielleicht doch nicht zum Kampf herauszufordern. Heute ist das ständige Vergleichen mehr zu einem Selbst-Zerstören geworden. An jeder eigenen Leistung wird selbst Kritik geübt, denn irgendjemand hat es schließlich schon einmal besser gemacht.
Hier kommt das Thema unserer Ausgabe ins Spiel: Vorbilder. Vorbilder dienen uns als Orientierung. Wir setzen uns das Ziel, so zu werden, wie sie. Dabei beginnen wir natürlich auch uns mit ihnen zu vergleichen. Dies kann im Kleinen oder auch im Großen geschehen: Bin ich so schön wie Heidi Klum? So erfolgreich? Oder auch so schön wie die aus der Parallelklasse mit den Modelmaßen? Bin ich so kreativ wie van Gogh? Oder so kreativ wie der Klassenkamerad, dessen Bild letzte Woche im Schulflur aufgehängt wurde. Während mein Bild nur die zweite Wahl des Lehrers war. Zwar immer noch eine sehr gute Leistung ist, womöglich sogar mit der Note „1“ belohnt wurde – aber eben nicht die Top ein. Mein Problem: Die Leistung wird herabgewürdigt, weil der andere besser war.
Man ist nicht mehr stolz auf die eigene Leistung, sondern frustriert, weil es besser geht. Doch es geht immer besser. Deshalb kann man auch immer wieder neue Vorbilder finden, denn da ist immer irgendjemand, der in irgendetwas irgendwie besser ist als ich.
Die Formel, wie ein Vorbild funktionieren soll, geht so: Das Vorbild erscheint perfekt, zumindest in einem bestimmten Bereich. Die Summe der guten Qualitäten (Erfolg, Reichtum, Intelligenz, Engagement …) des Vorbildes ziehen wir von unseren Qualitäten in diesen Bereichen ab und die Differenz zeigt uns, was uns noch alles fehlt. Hier kommt der relevante Punkt: Motiviert uns diese Differenz, besser zu werden? Schritt für Schritt diese weite Strecke zu den Qualitäten des anderen zu gehen? Oder demotiviert es uns, und wir beginnen Gedankenkreisläufe der Selbstdestruktion? Weil uns ja noch so viel fehlt und wir das sowieso nie erreichen und egal, was wir leisten – es wird nicht genug sein. Oft kommen diese Gedankenkreisläufe daher, dass die Vorbilder tatsächlich zu weit entfernt sind. Die Latte hängt zu hoch. Es ist unwahrscheinlich, dass ich so erfolgreich werde wie Bill Gates, so berühmt wie Obama und so intelligent wie Einstein.
Der Vergleich bringt uns dazu, zu versuchen aus uns selbst, jemand anderes zu machen. Wir beginnen, uns, statt an den eigenen Maßstäben, an den Maßstäben anderer zu orientieren. Doch wie viele Welten liegen zwischen meinem Maßstab und dem des anderen, an dem ich gerade versuche, mich zu messen?
Die Maßstäbe, an denen wir uns orientieren, dürfen nicht zu weit entfernt sein. Ein Vorbild soll uns motivieren, positiv stimmen und Hoffnung geben. Es soll uns immer wieder daran erinnern, wo wir hinwollen und uns den Glauben daran geben, dass wir dies auch erreichen können. Daher ist es wichtig, darauf zu achten, dass unsere Vorbilder in einem gesunden Rahmen liegen, in einem zu erreichenden und realistischen Rahmen.
Und wir müssen bewusst unsere Aufmerksamkeit lenken und darauf achten, den Wert unserer eigenen Leistungen, immerzu nach besseren Leistungen strebend, dennoch zu schätzen.