“Was wollen wir werden? Soldaten!“
Gastbeitrag von Stefan Risché über seinen Vater in der Hitlerjugend
1933. Mein Vater ist 10 Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Regierung kommen. Ganz offiziell gewählt von einem deutschen Volk, das nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg an einem heftigen Minderwertigkeitskomplex litt. Das nach der Weltwirtschaftskrise 1929 den Versprechen eines Ver-Führers mit einfachen Lösungen glaubte. Die Folge: Deutschland wurde zu einer Diktatur. Und Diktatoren gehen stets nach der gleichen Masche vor. Die Informationsvielfalt wird gestoppt. Parteien werden verboten, die Medien gleichgeschaltet. Das Land schottet sich ab. Es gibt nur noch eine Informationsquelle, die den größten Quatsch verbreiten kann. Wenn man keine Alternativen zum Vergleich hat, fällt das allerdings nicht auf.
In dieser Gleichförmigkeit wächst mein Vater auf. Kommt 1933 automatisch in die Hitlerjugend (HJ), dem einzig staatlich anerkannten Jugendverband, dem bald 8,7 Millionen Mitglieder angehören – 98 Prozent aller deutschen Jugendlichen. Dass es auch anders geht, zeigt meine Mutter, die zu den 2 Prozent gehörte, die nicht teilnahm und auch nicht Mitglied des BDM (Bund Deutscher Mädels) war, dem weiblichen Zweig der HJ. Aufgewachsen in einem sozialdemokratischen Elternhaus und entsprechend gewappnet. Doch das ist eine andere Geschichte.
Ziel der HJ war die ideologische Indoktrination und sportliche Ertüchtigung junger Menschen als geistige und körperliche Vorbereitung für einen späteren Krieg. Doch das haben die Jugendlichen nicht erkannt und stattdessen begeistert mitgemacht. Die Attraktionen – insbesondere für die Jungs – waren verlockend. Zeltlager weg von zu Hause mit Lagerfeuer, Gulaschkanone und Gemeinschaftsgefühl. Schießunterricht mit echten Gewehren. Handgranatenweitwerfen mit unscharfer Munition, um die Entfernung zum feindlichen Schützengraben zu lernen. Orientierungs-Wanderungen für den besseren Umgang mit Landkarte und Kompass. Getreu der Losung: „Was sind wir? Pimpfe! Was wollen wir werden? Soldaten!“
Die größte Attraktion für meinen Vater und seinen älteren Bruder war: Segelflugunterricht. Er war sein Leben lang von Flugzeugen begeistert, bei der HJ hat er das Fliegen gelernt. Als die Nazis 1939 einen Weltkrieg vom Zaun brechen, wird zuerst sein Bruder als Pilot eingezogen, wird über Frankreich abgeschossen und stirbt. Doch das ist kein Grund für meinen Vater aufzuwachen und den Irrsinn zu erkennen. Ganz im Gegenteil. Die Propagandafilme von Jagdfliegerhelden tun ihr übriges. So kommt er 1942 als Pilot zu einer Jagdstaffel an die Ostfront. Wieviele Menschen er bei seinen Einsätzen getötet hat – darüber hat er eisern geschwiegen. Zum Glück für ihn geht der Luftwaffe 1944 langsam der Treibstoff aus, so dass er im letzten Kriegsjahr als Flakhelfer stationiert wird.
Mein Vater kommt in amerikanische Kriegsgefangenschaft und überlebt eine Lungenentzündung nur deshalb, weil er im Lazarett Penicilline erhält – das neue Wundermittel aus den USA. Danach zwei Jahre französische Kriegsgefangenschaft im Kohlebergwerk. Da er französisch spricht, muss er als schmächtiges Bürschchen nicht Untertage, sondern kommt in ein Büro.
Mein Vater hat nach dem Krieg als Ingenieur gearbeitet. Ich habe ihn als intelligenten, aber auch verbitterten Menschen in Erinnerung. Er hat nie verwunden, dass er sich als Jugendlicher dermaßen hat instrumentalisieren und „verheizen“ lassen. Das hat heftig an ihm genagt. Vermutlich resultiert daraus seine permanente Frustration, die sich in einer gewalttätigen Erziehung uns Kindern gegenüber äußerte. Wir wurden regelmäßig grün und blau geschlagen. Einen ernsthaften Grund brauchte es dafür nicht. Unvorstellbar heutzutage. Aber Kinderschutz war in den Sechziger und Siebziger Jahren noch ein Fremdwort. Mit 50 Jahren stirbt er, als ich 15 Jahre alt war.
Kann ich ihm rückblickend einen Vorwurf machen? Muss ich seinem kriegsverliebten Vater einen Vorwurf machen, der von seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg bei der berittenen Artillerie schwärmte? Jahrzehnte lang tat ich es. Aber heute geht es mir nur noch darum, Jugendlichen klar zu machen, dass Informationsvielfalt das A und O der Selbstbestimmung eines Menschen ist. Du darfst glauben, was du willst. Aber informiere dich vorher erst einmal über sämtliche Optionen. Und dann habe den Mut, dich für diesen Weg zu entscheiden. Mir hat es gut getan. Und ich bin so froh, dass ich die Chance hatte, in einem Land aufzuwachsen, in dem ich mir aus vielen unterschiedlichen Meinungen meine eigene basteln konnte.
P.S.: Nach dem Tod meines Vaters fand ich eine ganze Serie Fotos, die er mit seiner Leica im Warschauer Ghetto aufgenommen hat. Man sieht das ganze Elend der jüdischen Bevölkerung. Doch er steht in einer Gruppe deutscher Soldaten und lacht in die Kamera, als handele es sich um einen Schulausflug. Die ideologische Indoktrination legte sich wie eine Blase um seinen Kopf. Anstatt seinen gesunden Menschenverstand zu benutzen, wirkte das Gift in seinem Kopf das ihm sagte: das ist schon alles so in Ordnung. Das müssen wir jungen Menschen immer wieder vor Augen führen – und das ist kein Vogelgeschiss in der deutschen Geschichte. Folgt nicht den falschen Vorbildern.