Vom enfant terrible zum Friedensstifter
Jan Böhmermann rettet das Internet – und uns

Als Polizistenfreund gegen Schlägertruppen rappen. Vor der Kamera mit einer Hakenkreuzbinde als singender Adolf Hitler posieren. Den türkischen Staatspräsidenten Erdogan als „Ziegenficker“ bezeichnen. Jan Böhmermann weiß, wie man den öffentlichen Diskurs prägt und polarisiert. Jetzt hat sich der Satiriker mit seiner neuen Aktion selbst übertroffen. Er habe, sagt er, „ausversehen“ eine Bürgerrechtsbewegung gegründet, die innerhalb kürzester Zeit mehr Anhänger gewonnen hat, als die AfD seit ihrer Gründung. Wie gesagt, er weiß, wie man polarisiert.
Als Jan Böhmermann mit seiner Satireshow „Neo Magazine royale“ begann, wurde er als Harald-Schmidt-Nachfolger in eine Schublade gesteckt. Heute ist er weltberühmt, was vor allem durch sein Schmähgedicht gegen Erdogan geschuldet ist. Macht ihn das zu einem Vorbild für unsere Generation? Auf den ersten Blick sieht Böhmermann nicht wie ein lupenreines Vorbild aus. Ist er wahrscheinlich auch nicht. Doch hat er nun eine wesentlich wichtigere Thematik in die Debatte gebracht, als die Majestätsbeleidigung. Jetzt geht es um Hass und Hetze im Internet – und seine Auseinandersetzung damit.
Seit längerer Zeit wird in den Kommentaren von Posts und Videos deutlich: Der Hass nimmt immer größere Ausmaße an. Er wird immer persönlicher und immer verletzender. Doch ist er nicht unstrukturiert und vereinzelt, sondern strikt und hierarchisch organisiert. Dies wurde vor allem durch die Doku: „Lösch dich! So organisiert ist der Hate im Netz“ (https://www.youtube.com/watch?v=zvKjfWSPI7s&t=33s) rund um den YouTuber Rayk Anders deutlich. In dieser wird auch der organisierte Hass behandelt, der vor allem durch die rechtsextreme Community „Reconquista Germanica“ vorangetrieben wird.
Dahinter verbergen sich etwa 6000 Nutzer. Das klingt zwar wenig, doch sorgen diese „Trolle“ mit Fake-Accounts dafür, dass sie wie eine scheinbare Mehrheit wirken. Durch dieses verzerrte Bild versuchen sie, das politische Klima in Deutschland mit Hass im Internet in die gewünschte Richtung zu lenken. Dabei werden ungeliebte Videos innerhalb von Minuten mit einer Flut von Hasskommentaren überschüttet und Memes erstellt und gepostet. Selbsterklärtes Ziel war es auch, die AfD bestmöglich in den Bundestag zu befördern. Einen Diskurs suchen sie dabei nicht.
In Kooperation mit dem Team um Rayk Anders berichtete Böhmermann in seiner Show von Reconquista Germanica. (https://www.youtube.com/watch?v=fAYjSLtz6wQ) Doch belässt es der Satiriker nicht dabei, sondern ruft eine Gegenbewegung ins Leben. Mit Sturmmaske, Stahlhelm und Grundgesetz in der Hand erklärte er feierlich: „Wir sind die Wichser, die den Wichsern, die uns den Spaß am Internet verderben, den Spaß am Internet verderben!“ Was wohl mehr als satirische Tat gemeint war, fußt auf fruchtbarem Boden. Innerhalb weniger Tage versammelten sich 50.000 Teilnehmer über den Chatserver „Discord“. Böhmermann verkündete am Tag der Arbeit das Ziel, dem Hass in den Chatverläufen mit Liebe entgegenzusteuern. Nicht das Schlechte, sondern das Gute soll im Vordergrund stehen und betont werden.
Die Reaktion war enorm. Schnell wurde die kollektive Einflussnahme im sozialen Web spürbar, der Hashtag #1mai dominierte den Diskurs mit bunten Herzchen und freundlichen Glückwünschen am Tag der Arbeit. Inzwischen werden verschiedene Inhalte besonders positiv kommentiert oder regen sachliche Diskussionen an. Es ist ein 180 Grad Wechsel, den die inzwischen in Verruf geratenen Social Networks, wie Facebook, Twitter, YouTube und Co. dringend benötigen. Aber auch die Nutzer müssen sich wieder mehr im Klaren sein, dass der Hass nur laut ist, nicht wahr.
Die Auswirkung zeigt sich auch in Dresden, das seit Pegida in den Augen vieler Deutscher als braune Nazistadt abgestempelt wurde. Denn das selbsterklärte „Volk“ in der Landeshauptstadt ist ebenso mehr ein Bruch- als ein Großteil. Auf Social Network machte sich von Dresdnern eine Welle der Erleichterung bemerkbar, die wieder etwas Positives über das eigene Zuhause lesen konnten. Grund war eine Projektion von einem Unbekannten auf die Frauenkirche: „Durchhalten, freundliches Dresden! Ihr seid nicht alleine! #Reconquistainternet“.
Somit hat es Böhmermann geschafft, der hin und wieder eher negativ aufgefallen ist, „ausversehen“ eine Welle der Empathie, Zuneigung und Dankbarkeit in Deutschland auszulösen. Da wir derzeit in einer unglaublich kritischen Phase leben, in der viele Menschen sich selbst verlieren und die Gesellschaft sich immer mehr in zwei Lage aufteilt, ist diese Aktion wohl beispiellos, sie sollte aber in naher Zukunft als Beispiel für viele weitere Aktionen dieser Art dienen. So wird Böhmermann zu einem Vorbild.