Verantwortung vermeiden: Tipps vom Profi
Gastbeitrag von Dipl.-Psych. Christoph Frey
Schon richtig: Verantwortung vermeiden kann jede*r. Seit wir Menschen überhaupt wissen, was Verantwortung ist, haben wir schließlich auch Strategien entwickelt, um ihr zu entgehen. Und: Dieses nicht zuzugeben. Das ist ja der Trick daran.
Aber natürlich können auch Profis der Verantwortungsvermeidung[1] immer noch etwas dazu lernen. Dazu empfiehlt es sich, diesbezügliche Bemühungen einer systematischen Betrachtung zu unterziehen. Ein dafür sehr hilfreiches Werkzeug ist das Konzept der Passivität. Es entstammt der von Eric Berne begründeten sogenannten Transaktionsanalyse, einer „Schule“ innerhalb der Psychologie[2]. Passivität wird hier definiert als die Menge aller Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen, die geeignet sind, die Lösung eines Problems zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Also genau das, was wir brauchen, wenn wir Verantwortung für ein gegebenes Problem vermeiden wollen.
Wir konzentrieren uns auf Passivität im Denken sowie im Verhalten und betrachten diese im Folgenden anhand eines konkreten Beispiels. Sagen wir, meine Partnerin spricht mich darauf an, dass es in unserer Beziehung in letzter Zeit nicht mehr so richtig gut läuft. Sie möchte gerne reden: „In letzter Zeit streiten wir ständig. Ich fühle mich nicht so richtig glücklich und ich glaube, Du auch nicht. Wir sollten reden.“ Irgendwas in der Art. Jetzt habe ich 2 Möglichkeiten zu reagieren:
- Möglichkeit 1: Ich nutze die mir zur Verfügung stehende Energie, um das Problem zu lösen, d.h. ich versuche zum Beispiel durch Fragen zu verstehen, was genau sie unglücklich macht. Ich erkunde meine eigenen Bedürfnisse und frage mich, ob ich glücklich bin, und wenn nein, warum nicht. Ich erkunde gemeinsam mit meiner Partnerin Möglichkeiten, unsere Beziehung zu verbessern und wieder glücklicher zu sein. Kurz gesagt: Ich übernehme – gemeinsam mit meiner Partnerin – Verantwortung für unsere Beziehung.
Aber das will ich natürlich nicht, ist ja schließlich mühsam und eventuell sogar schmerzhaft.
- Also wähle ich Möglichkeit 2 und nutze die mir zur Verfügung stehende Energie für Denk- und Verhaltensweisen, die geeignet sind, das Problem nicht zu lösen bzw. zu vermeiden. Ich übernehme keine Verantwortung für unsere Beziehung, gebe das aber natürlich nicht zu.
Wie sieht das konkret aus? Als fortgeschrittener Verantwortungsvermeider, der ich bin, werde ich zunächst einmal Sorge tragen, schon mein Denken so auszurichten, dass es eine Lösung des Problems ausschließt. Wichtig ist dabei, passives Denken nicht nur zu behaupten, sondern sich selbst von der Richtigkeit dieses Denkens zu überzeugen[3]. Das steigert die Wirkung ungemein.
- Auf der grundlegendsten Stufe leugne ich die Existenz eines Problems: „Was denn für ein Problem? Es gibt kein Problem! Wir streiten doch gar nicht![4]“
- Wenn sich nicht recht vermeiden lässt, zuzugeben, dass vielleicht doch irgendetwas im Argen liegen könnte in der Beziehung, erkenne ich die Existenz des Problems zwar oberflächlich an, werte es aber gleichzeitig ab, indem ich ihm die Bedeutung abspreche: „Ja, hin und wieder streiten wir vielleicht, aber welches Paar tut das nicht? Welche Beziehung ist schon immer glücklich[5]?“
- Lässt sich nicht länger leugnen, dass das Problem tatsächlich auch Bedeutung hat, kann ich immer noch dessen prinzipielle Unlösbarkeit behaupten: „Es gibt halt Höhen und Tiefen in Beziehungen. Das ist normal. Dagegen kann man gar nix machen.“ Fortgeschrittene werden an dieser Stelle zusätzlich das Problem so sehr aufblasen, dass eine Lösung auch hoffnungslosen Optimisten völlig undenkbar erscheint[6].
- Komme ich nicht umhin, anzuerkennen, dass das Problem prinzipiell schon lösbar wäre, bleibt mir schlussendlich nichts anderes mehr übrig, als meine eigene Problemlösefähigkeit abzuwerten: „So bin ich halt[7]. Und außerdem ist es eh gerade schlecht, weil … [fügen Sie an dieser Stelle beliebige Gründe ein].“
Ergänzt werden die passiven Denkweisen durch passive Verhaltensweisen. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt, solange nicht aus dem Blick verloren wird, dass sie darauf abzielen müssen, das Problem nicht zu lösen. Bewährt haben sich im Wesentlichen vier:
- Die offensichtlichste Form von passivem Verhalten, wenn man mit einem Problem konfrontiert wird, ist das Nichtstun: Statt mich um eine Lösung des Problems zu bemühen, sage ich einfach gar nichts; oder ich lege mich ins Bett und schlafe; oder gucke fern; oder mache sonst etwas völlig anderes. Nichtstun kommt auch gerne als subjektives Lähmungsgefühl daher („Kaninchen vor der Schlange“)[8]. Wichtig ist, dass das, was ich tue (wenn ich denn etwas tue), nichts mit dem zu lösenden Problem zu tun hat. Diese Strategie wird gerne auch als Gelassenheit rationalisiert[9] oder als Einsicht, dass manche Dinge sich von selbst regeln: „Die hört schon wieder auf.“
- Weniger offensichtlich – aber noch hilfreicher, weil schwerer erkennbar – ist die Überanpassung: Statt das Problem zu analysieren und die eigenen Bedürfnisse in diesem Zusammenhang zu erkunden, orientiere ich mich an dem, was meine Partnerin – vermeintlich oder tatsächlich – wünscht. Nachdrücklich fordere ich entsprechende Aussagen auch ein: „Was soll ich denn machen? Sag doch, was ich tun soll!“ Anschließend halte ich mich buchstabengetreu[10] an all die Aussagen, die meine Partnerin unvorsichtigerweise gemacht hat. Sobald dies erwartbarerweise[11] nicht zu einer Lösung geführt hat, kann ich mich dann wortreich und selbstmitleidig beklagen: „Ich hab doch alles gemacht, was Du wolltest!“
- Ebenfalls sehr beliebt[12] ist die Agitation: Ich entfalte enorme Aktivität, die scheinbar auch irgendwie mit dem zu lösenden Problem zusammenhängt, aber nie zu einer Lösung führt. Blinder Aktionismus hat sich hier auf das Erfreulichste bewährt. Das Schöne an der Agitation ist, dass sie zwar wie gewünscht nie zu einem sinnvollen Ergebnis führt, aber gleichzeitig so hübsch entschlossen und tatkräftig ist.
- Wenn gar nichts mehr hilft, bleibt schließlich noch die Gewalt: Ich schreie herum, verlasse türenschlagend den Raum, beleidige, verletze (zur Not auch körperlich)[13]. Gewalt ist zwar eher unsubtil, verhindert aber Lösungen durchaus nachhaltig. Etwas subtiler, aber natürlich auch mit größeren persönliche Risiken verbunden, ist die Gewalt gegen sich selbst: Ich setze mich für meine Verfehlungen selbst auf die Anklagebank, schlage mir nicht nur metaphorisch an die Stirn, begebe mich in gefährliche Situationen, nehme Drogen etc.
Damit beenden wir diesen kleinen Überblick. Ich kann mit Überzeugung und aus eigner gelebter Erfahrung heraus garantieren, dass alle hier aufgezeigten Denk- und Verhaltensweisen hervorragend geeignet sind, die Übernahme von Verantwortung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Dabei empfiehlt es sich, flexibel in der Nutzung der verschiedenen Denk- und Verhaltensweisen zu bleiben. Sie alle haben ihre Berechtigung und ihre je eigene Wirksamkeit. Die Auswahl sollte sich demenstprechend an den Erfordernissen der gegebenen Situation orientieren. Das freilich schließt persönliche Favoriten und Lieblings-Vorgehensweisen nicht aus.
Fußnoten mit Anmerkungen:
[1] die, die meisten von uns – seien wir ehrlich – sind.
[2] So wie beispielsweise auch die Psychoanalyse eine Schule innerhalb der Psychologie ist, also ein weitgehend geschlossenes theoretisches Gebäude mit theoretischen Annahmen über Menschen und ihr Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Verhalten sowie entsprechenden Modellen und Werkzeugen.
[3] Die traurige Wahrheit ist, dass das viel einfacher ist, als es klingt, und wir derlei praktisch ständig tun.
[4] Gewissermaßen Fake News im Beziehungsalltag. So sad.
[5] Sehr schön ist hier der gekonnte Einsatz der Umdeutung zu sehen: Es wurde ja gar nicht verlangt, dass Beziehungen immer glücklich sein müssen.
[6] Dabei kann die Umdeutung der ursprünglichen Aussage wieder ausgesprochen wertvolle Dienste leisten.
[7] In diesem Zusammenhang lässt sich sehr gut auf angeblich unveränderliche Merkmale wie „Persönlichkeit“ oder „Charakter“ verweisen, gerne noch garniert mit Hinweise auf „die Gene“ oder einschneidende persönliche Lebenserfahrungen, die an Problemlösung gar nicht denken lassen.
[8] Die subjektiv empfundene Lähmung ist freilich nur etwas für Fortgeschrittene, erfordert es doch eine Menge geistiger Disziplin, sich selbst so sehr zu verunfähigen, dass man anschließend davon gelähmt ist.
[9] d.h. scheinbar rational erklärt
[10] Ganz wichtig hier: Den Buchstaben der Aussage befolgen, aber nicht den Geist; so wird sichergestellt, dass entsprechende Bemühungen zu nichts führen.
[11] weil nicht Ergebnis einer Diskussion, bei der beide Seiten ihre Ansprüche und Bedürfnisse abgewogen haben und gemeinsam zu einer Entscheidung gelangt sind.
[12] insbesondere bei Entscheider*innen im politischen oder Unternehmenskontext.
[13] In Unternehmen wird diese Form der Problemvermeidung auch gerne als „hart, aber herzlich“ bezeichnet (wobei man sich dann zumeist fragt, wann der herzliche Teil eigentlich kommt) oder als „bei-XY-herrscht-halt-ein-rauer-Umgangston“ rationalisiert. Das ist oft sehr drollig zu beobachten.