Tragen wir das Gen der Revolution in uns?
Wenn Schüler auf die Straße gehen und Ärger statt Beifall bekommen
Ich bin ein Kind Rastatts. Aber was bedeutet das? Werden wir durch unsere Stadt und deren Geschichte geprägt? Durch die Erzählungen von Revolutionären in Baden? Im 19. Jahrhundert haben junge Menschen für mehr Demokratie gekämpft. Für mehr Gerechtigkeit. Mehr Souveränität des Volkes. Und heute? Im Jahr 2019? Tragen wir Rastatter das Gen der Revolution in uns – und gibt es eine Verantwortung aus unserer Stadtgeschichte heraus? Gerade für meine Generation?
Der Rastatter Frieden. Die badische Revolution. Am Rande haben wir die Themen in der Schule behandelt und auch die “Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte” im Schloss Rastatt besucht. Das Lernen von Fakten, weniger von Zusammenhängen und Auswirkungen auf die heutige Zeit. Carl Schurz ist ein Name aus der Historie und begleitet mich und viele junge Rastatter seit der Grundschulzeit bis heute. Eine Straße ist in Rastatt nach ihm benannt. Auch eine Schule und ein Brunnen. Leider habe ich im Unterricht nicht begriffen, wer dieser Schurz war oder geschweige denn, was Badische Revolution bedeutet. Ich war da sicher nicht alleine.
Wir lernen Texte mit Begriffen, die einfach nur Wörter sind. Einigkeit, Recht und Freiheit. Die Worte unserer Nationalhymne. Erst wenn wir begreifen, was dahintersteht und wie die Inhalte entstanden sind, können wir weiterdenken. Zum Beispiel wie wir diese Werte heute schützen können.
Carl Schurz war 19 Jahre jung, als er sich 1848 den Führern der Badischen Revolution anschloss. Er kämpfte mit anderen Revolutionären von der Festung Rastatt aus gegen die Preußen. Nach deren Sieg flüchtete er durch einen unterirdischen Kanal aus der Stadt und gelangte über Frankreich in die Schweiz. Man stelle sich das mal vor: Er war 19! Wenig älter bin ich! Ich habe an der Anne-Frank-Schule mein Abitur gemacht und studiere in Karlsruhe Mathematik. Was wäre nötig gewesen, um meinen bürgerlichen Weg zu verlassen und ebenfalls Revoluzzer zu werden? Was braucht es, damit man wegen mir Denkmäler aufstellt?
Bei welchen Themen gehen junge Menschen heute auf die Barrikaden? Freitags demonstrieren Schülerinnen und Schüler weltweit – auch in der Region – unter dem Hashtag „FridaysforFuture“ für mehr Klimaschutz. Das bekannteste Gesicht der Proteste ist die 16-jährige Greta Thunberg aus Schweden, die Politikern die Leviten liest, und gerade für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. Jede Generation hat ihre Helden. Aus Carl Schurz wurde in seinem Auswanderungsland ein Journalist mit eigener Zeitung und später sogar der Innenminister der Vereinigten Staaten. Was für eine Karriere: vom verfemten Revoluzzer zum gefeierten Staatsmann.
Im Nachhinein sind wir alle schlauer – mit Renommee im Rücken wird man leicht als Namensgeber für eine Straße geehrt. Aber was würde passieren, wenn an Rastatter Schulen Jugendliche als Vorbild Carl Schurz nennen und aufbegehren? Gegen massive Ungerechtigkeiten einstehen? Wenn wir uns an ihm und anderen Revolutionären ein Beispiel nehmen und im Alltag Zivilcourage zeigen? Ich stelle mir diese Fragen. Wir stellen sie uns bei unseren Redaktionssitzungen. Schließlich haben wir unsere Onlinezeitung als Wortschöpfung kreiert: Rastatt und Revolution ergibt RAVOLUTION.
Natürlich gibt es auch heute genügend Baustellen, an denen wir als Gesellschaft neu denken müssen. Wie überwinden wir Wohnraummangel? Wie bekämpfen wir die Vermüllung der Stadt nachhaltig? Wie schaffen wir mehr Integration? Und wie schützen wir unser Grundwasser vor Giften? Fragen gerade in Rastatt, mit denen eine neue Generation aufwächst. Was hätten die Revolutionäre von damals heute bemängelt? Wäre Carl Schurz stolz auf uns?
Ich glaube, Carl Schurz hätte Lehrern, Schuldirektoren und Eltern zugerufen: “Was feiert ihr in meinem Namen die Gedenktage der Badischen Revolution und gebt Plätzen meinen Namen? Wenn ihr gleichzeitig, jungen Menschen, die freitags für ihre Ideale demonstrieren, an den Pranger stellt und sie für Schulschwänzen bestrafen wollt!” Ja, vielleicht wird einer von uns auch Innenminister, wo auch immer. Oder es wird eine Schule nach einem von uns Demonstranten benannt. Wer weiß das schon heute? Aber eines weiß ich ganz bestimmt: Wir brauchen Vertrauen von unseren Eltern und Großeltern, von Lehrern und Politikern. Wir brauchen Vorbilder. Und wir brauchen Ältere, die mit uns zusammen an einer guten Zukunft arbeiten! Wir sind dazu bereit – Ihr auch?