„Selbstbestimmtes Leben ist nur durch Bildung möglich“
Interview mit Jörg Overlack, Gründer des Bildungsprojekts für Kinder in Nepal – mit meinem Opa
Nepal. Bekannt für Trekking, Bergaufstiege im Himalaya und abenteuerliches Rafting. Doch hinter den hohen Bergen, dem leckeren Essen, den heiligen Kühen, schönen Tempeln und ungeordneten Straßen verbergen sich Abgründe: hohe Analphabeten-Zahlen, schlecht ausgebaute Schulen, Kinderarbeit und eine fehlende Bildungsstruktur. Jörg Overlack und seine Frau Dagmar erkannten dieses Problem 1992 auf einer Trekkingreise. Sie entschlossen sich, zur Förderung der Bildung etwas beizutragen. Aus dem Nichts heraus.
Jörg und Dagmar Overlack sind meine Großeltern. Wir leben in Rastatt. Fast 7 000 Kilometer von Nepal entfernt. Die Hilfe meiner Großeltern ist ein privates und ehrenamtliches Projekt: Alles begann mit der Unterstützung von fünf Kindern an einer Schule. Heute, rund 25 Jahre später, fördert diese Idee über 600 Schüler an sieben verschiedenen Schulen. Das Geheimnis des wachsenden Erfolgs: 100% der Spenden gehen nach Nepal. Verwaltung und Organisation werden privat finanziert. Den Rest darf Jörg Overlack selbst erzählen:
RAVOLUTION: Kannst du dein Projekt kurz beschreiben?
Jörg Overlack: Wir unterhalten seit über 25 Jahren in Nepal in den Bergen ein Kinder-Schul-Projekt. Wir ermöglichen Kindern die Schulbildung. Dabei werden die Kinder von einer Kommission ausgesucht: Sie müssen intelligent genug sein und werden mindestens bis zur mittleren Reife (Klasse 1-10) gefördert. 55 % der Teilnehmer sind Mädchen. Auch weil wir der Meinung sind, dass die Frauen gerade in den Entwicklungsländern die Haupterziehungsaufgabe haben.
RAVOLUTION: Was meinst du mit Haupterziehungsaufgabe?
Jörg Overlack: Die Männer gehen arbeiten oder Bier trinken, und die Frauen haben sich um die Erziehung zu kümmern. Wenn die Frauen eine Schulbildung haben, lesen schreiben und rechnen können, werden sie auch auf dem Markt nicht betrogen. Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, braucht man einfach Bildung! Das geben die Frauen den Kindern besser weiter als die Männer. Frauen können in Nepal mittlerweile auch Berufe ausüben, die bis vor 30 Jahren nur Männer erreichen konnten. Unsere Zielrichtung ist nicht zu sagen, wir geben die Ausbildung nur, damit die Frauen ihre Bildung an ihre Kinder weitergeben. Wir wollen, dass die Menschen und damit auch die Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen. Wenn sie intelligent genug sind, werden sie bis zum Master oder Bachelor von uns gefördert. Dafür müssen sie allerdings eine bestimmte Punktzahl erreichen.
RAVOLUTION: Nach welchen Kriterien werden die Kinder von der Kommission ausgewählt? Was entscheidet, ob sie für eine Förderung in Frage kommen oder nicht?
Jörg Overlack: Es dürfen nur Kinder sein, deren Eltern sich die Schulbildung für ihr Kind nicht leisten können. Sie müssen bedürftig sein. Auf der anderen Seite müssen sie so aufgeweckt und intelligent sein, dass sie die Schulbildung von der Klasse 1 bis 10 und möglichst noch weiter durchziehen. Dafür müssen sie einen Test machen. Unsere Prämisse ist, dass wir möglichst intelligente Kinder fördern, die dann später auch ein selbstbestimmtes Leben führen können und nicht irgendwann in Klasse 7 ihre Ausbildung abbrechen müssen. Das haben wir alles schon erlebt, weshalb wir zu der Überzeugung gekommen sind, dass diese Auswahlkriterien einfach nötig sind.
RAVOLUTION: Welche Auswirkungen erhoffst du dir von eurem Projekt auf lange Sicht?
Jörg Overlack: Das kann man nicht voraussagen. Meine Frau und ich haben das angefangen, weil wir eine innere Bereitschaft dazu hatten. Wir wollen einfach unseren zeitlichen und finanziellen Einsatz bringen, um bei diesem furchtbaren Leid in den Berggegenden von Nepal etwas Gutes tun zu können. Wir wollten einfach einigen der hunderttausend Kinder die Möglichkeit geben, später ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Es ist für uns natürlich sehr erfreulich, dass sowohl unsere Kinder als auch unsere Enkelkinder ein Interesse an der Fortführung dieses Projektes zeigen. In welcher Weise das fortgeführt wird, liegt dann in ihrer Hand.
RAVOLUTION: Wenn du konkret etwas in allen nepalesischen Schulen verändern könntest, was wäre das?
Jörg Overlack: Das ist sehr schwer. In ganz Nepal sind heute noch zwischen 30 % und 40 % der Bevölkerung Analphabeten. Mein Hauptwunsch wäre, dass es in Zukunft eine Schulpflicht in Nepal gibt. Auch heute noch ist es ein „Kann“, die Eltern können ihre Kinder zur Schule schicken, sie müssen aber nicht. Das ist der Grund, warum es, besonders im ländlichen Raum, noch so viele Analphabeten gibt.
RAVOLUTION: Ihr fördert auch den Computereinsatz und die Einführung der Schüler in die technische Welt. Warum ist das für dich wichtig?
Jörg Overlack: Das ist heute in unserer digitalen Welt ein Muss. Wenn wir die Kinder nicht in Computertechnik und digitalen Fähigkeiten ausbilden, haben sie überhaupt keine Existenzmöglichkeit, wenn sie aus Nepal rauskommen. Wir müssen heute auch den Kindern auf dem Lande die Möglichkeit geben, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden. Genau aus dem Grund haben wir bereits 1997 begonnen, in allen Schulen, die wir unterstützen, modernste Computer zu installieren, damit die Schüler die Möglichkeit haben, später zu studieren und sich auch im Ausland gut zurechtzufinden.
RAVOLUTION: Dein Wunsch ist, dass die geförderten Schüler nach dem Abschluss ihrer Ausbildung oder ihres Studiums in Nepal bleiben oder dorthin zurückkehren, um das Land selbst weiter zu unterstützen. Wie vermittelst du das den unterstützten Schülern?
Jörg Overlack: Von ihnen fordern können wir das nicht. Wenn ich nur einem einzigen Kind die Chance gegeben habe, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dann tue ich das ohne eine Forderung. Wir haben sehr positive Erfahrungen damit gemacht. Die bisher geförderten Jungen kommen im Wesentlichen zurück. Anders sieht es bei den Frauen aus. Wir haben drei Beispiele, wo die Frauen bis zum Studium von uns gefördert wurden und alle drei haben ausländische Männer geheiratet und sind aus Nepal weggezogen. Während die Jungen nach einer gewissen Zeit den Wunsch haben, zurückzukommen, weil sie erkennen, dass sie hier auch eine Art Verpflichtung haben. Zwei bis zum Studium geförderte junge Männer haben mir ganz klar gesagt, dass sie uns, nach Beenden ihres Studiums, von Nepal aus bei dem Projekt helfen wollen. Das finde ich eine großartige Aussage. Zwingen kann ich sie dazu aber nicht. Sie müssen das selbst entscheiden.
RAVOLUTION: Was können deutsche Schüler von nepalesischen Schülern lernen?
Jörg Overlack: Bescheidenheit und die Freude, überhaupt lernen zu dürfen. Wenn ich die Schulen in Nepal besuche, gibt es ein Riesen Hallo. Überall wird mir Freude und Dankbarkeit entgegengebracht dafür, dass die Schüler die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen. Das gibt es in unseren Breitengraden schon lange nicht mehr.
Bei der Bildung weltweit sieht man, meiner Ansicht nach, sehr deutlich, wo Bildung vorherrscht und wo nicht. Der IS, zum Beispiel, ist geprägt von Leuten, die kaum eine Bildung haben. Dort werden Anhänger rekrutiert, die bereit sind, Selbstmordattentate zu begehen und dort kann man, aus meiner Perspektive, erkennen, dass Bildung sehr wichtig ist, damit auch die Menschen begreifen, was sie mit solchen Anschlägen anrichten. Je mehr Bildung besteht, desto mehr Intelligenz gibt es, desto mehr kann man auch auf das Verständnis und das Miteinander zählen. Das sind zwar fromme Wünsche, aber ich glaube, dass es weltweit ausschlaggebend ist. Man sieht es auch in Afrika, wo die Bildung noch sehr hinterherhängt und es sehr viele Analphabeten gibt. Ich glaube, dass wir, die westliche Welt, aufgefordert sind, zu helfen, wo es nur geht! Dass es unsere Aufgabe ist, diesen Menschen die Möglichkeit zu geben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das ist nur mit Bildung möglich. Überall, wo diese Bildung nicht besteht, wächst Brutalität und Aggression und bedroht den Frieden. Das ist der Grund, warum wir uns so stark dafür engagieren, die Bildung, im Rahmen unserer Möglichkeiten, voranzutreiben.
RAVOLUTION: Wenn du jedem Abiturienten 2018 in Deutschland etwas sagen könntest, was würdest du ihnen mitgeben?
Jörg Overlack: Mitgefühl. Heute wird sehr viel, fast alles, über den Verstand geregelt und der Verstand steht dem Herzen, der Wohltätigkeit und dem Mitgefühl gegenüber anderen im Weg. Das ist ein Grund, warum die Welt überhaupt so in Unordnung ist. Wenn die neue Generation in der Lage ist, hier insgesamt mehr für ihren Nächsten, nicht im Sinne von nebendran, sondern allgemein für den Nächsten, zu tun, kann das schon viel verändern. Ich glaube, das wäre meine persönliche Botschaft für die Jugend, sich hier stärker zu engagieren und das Miteinander und Mitgefühl in ihr Leben zu integrieren. Nicht nur Wissen, Macht, Geld. Das bringt uns auf Dauer nicht weiter.
RAVOLUTION: Vielen Dank für das Gespräch. Und alles Gute für die Nepal-Hilfe!
Weitere Informationen: http://nepal-kinder-overlack.de/.
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