Sehr geehrter Herr Beckenbauer!
Abrechnung mit einem gefehlten Vorbild
Ich muss Sie enttäuschen, das ist kein Fan-Brief mit der Bitte um ein Autogramm. Im Gegenteil. Wenn ich ein Autogramm von Ihnen hätte, würde ich es Ihnen zurück schicken. Betreffzeile: Enttäuschung. Ich war kein Fan von Ihnen, aber Sie hatten meinen Respekt. Der Kaiser als Sonnenkind, dem alles gelingt. Als Spieler ein Weltmeister. Als Trainer ein Weltmeister. Als WM-Beschaffer ein Weltmeister. Selbst Ihre Affären und unehelichen Kinder zählten nicht als Foul. Für Ihren Satz „Der liebe Gott freut sich über jedes Kind“ habe ich Sie sogar innerlich gebusselt.
Doch die Sonne hat sich verzogen, mediale Gewitter prasselten nieder. Ihre Rolle im DFB, in der UEFA und in der FIFA ist dubios. Ich kann mich noch sehr gut an die Live-Übertragung erinnern, wie Sepp Blatter verkündete, dass Deutschland WM-Gastgeber 2006 werden wird. Die Kamera schwenkte auf Sie, Herr Beckenbauer, und ihr lächelndes Gesicht. Stolze Freude lasen wir jubelnden Fans in Ihrer Mimik. Heute weiß ich: Da war keine Spur Überraschung enthalten. Vielleicht hätte ich Genugtuung ablesen können. Das stille Wissen: Alles, wie geplant und abgekartet?!
Natürlich können Sie sich auf „Im Zweifel für den Angeklagten“ berufen. Ohne Verhandlung keine Verurteilung. Aber Sie tragen nichts Erhellendes bei. Herumgedruckse, Aussage-Verweigerungen, Prozess-Verzögerungen, Abtauchen in Ihrer Steuer-Oase. Macht das ein Unschuldiger? Vor ein paar Wochen war ich bei einer Lesung des Fußballkommentators Marcel Reif. Er schwärmte regelrecht von Ihnen. Von ihrer allseits freundlichen und geduldigen Art gegenüber allen Menschen. Und wie enttäuscht Sie heute seien. Er kennt Sie persönlich. Da wird jedes Bild weicher. Seine Einschätzung ist unbestritten. Aber das eine wiegt nicht das andere auf. Was wären wir für eine Gesellschaft, wenn die nice guys einen Freibrief bekämen?
Aber uns Profiteure, die wir gelächelt, gejubelt und gefeiert haben, trifft eine Mitschuld. Wir waren leichtgläubig. Schließlich hielten wir bei Ihnen, „unserem Franzl“, alles Gute für möglich, ohne Zweifel. Dabei wussten wir, das Sie (sorry!) kein intellektueller Überflieger sind, sondern sogar ein politischer Hassadeur. Eine Aussage brachte Sie in Schieflage, ein verbaler Pass in den Abgrund. Sie hatten über den WM-Gastgeber von 2022, dem schreckliche Arbeitsbedingungen und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, gesagt: „Ich habe noch nicht einen einzige Sklaven in Katar gesehen. Die laufen da frei rum.“ Pfui, Herr Beckenbauer, kein Gekicke, kein noch so lukrativer Deal, einfach nichts rechtfertigt Ihr naives und peinliches Gestammel.
Warum ich Ihnen schreibe? Weil ich Sie verantwortliche mache. Weil Sie so viele Menschen enttäuscht haben. Ihr Status entsprach einem Volkshelden, einem Vorbild, Sie waren die Lichtgestalt im Sport. Und jetzt? Wieder einer weniger! Was haben Generationen von jungen Menschen an Ihnen hochgeschaut, von Ihrem Teamgeist gelernt, Ihrem Fair Play, Ihrer Professionalität. Was zählt nun noch? Fairness? Wem gegenüber? Ihre Beziehung zu uns ist schwer gestört. Wem können wir noch glauben? Wem vertrauen? Wen bewundern? Wem als Vorbild nacheifern? Ihnen jedenfalls nicht mehr! Helden sind auch nur Menschen. Aber Menschen müssen nicht fehlen und Macht missbrauchen!
Mit enttäuschten Grüßen
Ihr Nicht-Fan
Ute Kretschmer-Risché