Schubsen wir den dicken Mann auf die Gleise?
Gedankliche Experimente zu Verantwortung und Emotionen
Wir können Lichtjahre in die Vergangenheit linsen, zu fernsten Galaxien. Doch das Wunder steht hinter dem Objektiv. Die Menschheit ist ein Gemeinschaftsprojekt und gemeinsam haben wir Unfassbares bewegt in der Welt. Wir nehmen dabei Rücksicht auf den Nächsten. Doch nicht immer auf die Fremden oder das weit Entfernte, gar so selten, dass wir uns fast selbst auslöschen. Wieso muss das so sein? Und muss es überhaupt sein?
Erstes Szenario: Metallräder rattern über Gleise, ein Zug rast durch die Landschaft. Sie als Mensch stehen am Hebel, Sie können eine Weiche stellen. Entweder, Sie lassen den Zug ungehindert weiter fahren, geradewegs auf fünf Schienenarbeiter zu, oder, Sie lenken ihn auf ein Gleis ab, auf welchem nur ein Arbeiter werkelt.
Zweites Szenario: Der Zug bahnt sich seinen Weg auf die fünf Arbeiter zu. Sie stehen auf einer Brücke. Sie könnten nun einen stark übergewichtigen Mann von der Seitenbegrenzung der Brücke auf die Schienen schubsen, um so den Zug zu stoppen und die fünf Arbeiter verschonen.
Rein rechnerisch sind die zwei Fälle gleich. Ein Leben gegen fünf andere. Als man in einem Experiment Probanden vor diese Entscheidung stellte, fielen die Antworten allerdings so aus wie bei den meisten von euch vermutlich auch. Im ersten Szenario wird die Weiche gestellt, im Zweiten jedoch weigert man sich strikt, einen Menschen zu opfern und durch die eigene Hand zu töten.
Als man das Experiment mit Patienten durchführte, welche Hirnschäden am Draht zwischen dem limbischen System (Sitz der Emotionen) und präfrontalen Cortex (wo sich unser Urteil bilden soll) geschädigt waren, zeigte sich ein anderes Ergebnis. Die Szenarien wurden gleich bewertet. Auch andere Szenarien, wie das Ersticken eines schreienden Babys, um eine Menge Menschen in einem Keller vor den Soldaten im Haus vor dem sicheren Tod zu bewahren, wurden getestet. Die Probanden mit Hirnschaden entschieden rational nach Kosten-Nutzen-Rechnung, utilitaristisch könnte man sagen. In anderen Worten: Die Konsequenzen bedenkend so wählen, dass Glück gemehrt und Leid gemindert wird.
Wäre das moralische Urteil unabhängig von der emotionalen Bewertung, so hätte es dieses Ergebnis von Kognitionspsychologen der Harvard University nicht geben dürfen, so die These.
Man stelle sich vor, man hätte sich immer dazu entschieden, einen gegen fünf zu opfern, säße man vor Gericht. Hier nun müsse man sich verantworten, also im ursprünglichen Sinne des Wortes, vor Gericht verteidigen. Verantwortung entsteht als Pflicht, begründet in einem Anspruch, wie man zu handeln habe, welche von einer Instanz eingefordert werden kann. Diese Instanz kann vieles sein: ein Arbeitgeber, ein Familienmitglied, Gott, die gesamte Gesellschaft, ein Gericht oder auch ein zukünftiges Selbst. Anscheinend fällt es Menschen normalerweise leichter, die Verantwortung für das erste Szenario zu übernehmen. Die Konsequenzen sind indirekter mit der eigenen Handlung verknüpft als im zweiten Fall. In der Verhandlung müsste man sich rechtfertigen. Worin der Unterschied begründet ist, ist rational nicht immer ganz einsichtig.
Wir scheinen biologische Grundlagen für Moral in uns zu tragen, die sich in Intuitionen zeigen. Das leuchtet evolotionsbiologisch gesehen ein. Gruppen, welche gewisse Umgangsformen untereinander einhielten, hatten bessere Überlebenschancen. Kleine Kinder auf der ganzen Welt zeigten in Versuchen eine ähnliche Abneigung gegen Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Die Unterschiede bildeten sich erst mit der weiteren Sozialisation heraus. Wir alle haben eine eingebaute Fähigkeit, welche uns beispielsweise Mitgefühl ermöglicht: Empathie, die Fähigkeit sich in ein Gegenüber hineinzuversetzen.
Menschen können zwar unglaublich grausam und ungerecht sein, im Alltag kommen wir aber mehr oder weniger gut miteinander aus. Fremde und Freunde schaden sich zwar gegenseitig, doch auf unseren westeuropäischen Straßen herrschen keine Kriegszustände. Menschen zeigen Mitleid mit Kindern und zögern, bevor sie ein Leben bedrohen. Der Großteil sozialer Interaktionen verläuft mit einem Mindestmaß an Respekt. Dass es Ausnahmen gibt, welche wir fürchten oder verurteilen, zeigt da nur, dass der Normalzustand ein anderer ist.
Es wundert so nicht, dass wir davor zurück schrecken, Menschen direkt zu verletzen. Es wundert nicht, wieso ähnliche Grundsätze in sehr unterschiedlichen Kulturen aufzufinden sind. Wieso wenige Worte Maxime formen konnten, die so viele überzeugen. Wieso wir auch in enorm großen Gesellschaft eine halbwegs funktionierende Ordnung herausbilden können. Diese bleibt zwar immer Werk der Menschheit, aber doch ist dieses Werkeln begründet und geformt von unserer biologischen Natur.
Wir empfinden Empathie und haben ein Gefühl für Gerechtigkeit. Wir verhindern Konsequenzen, welche absehbar anderen schaden. Wir halten uns an Konventionen, auch um der Belohnung oder Vermeidung von Strafe wegen. Vor allem aber handeln wir moralisch gegenüber Menschen, die uns nahe stehen. Wir haben mehr Empathie, umso ähnlicher sie sind. Wieso Abgrenzung von Fremden so gut funktioniert und Menschen ohne Skrupel verheerendste Taten begehen. Wenn sie sich nur lang genug eine klare Grenze zur Gruppe des Gegenübers einreden, ja, leider lässt sich auch das biologisch leicht mit einem Schutz der eigenen Gene erklären. Die rationale Abgrenzung baut so ein emotionales Verdrängen auf, die Empathie stirbt.
Ich glaube, wer hier Moral an den Mensch bringen will, muss vor allem Begegnung schaffen. So scheint es mir kein Zufall, dass in Gebieten mit Flüchtlingen mehr Akzeptanz herrscht den Fremden gegenüber als bei Menschen, die noch nie mit ihnen in Kontakt getreten sind. Die Fremden sind bei einem Treffen einfach gleich sehr viel weniger fremd. Vorausgesetzt das Treffen findet im normalen Leben ohne eine zu stark politisierte Atmosphäre statt.
Uns selbst und uns sehr ähnlichen Menschen wie auch der Welt als Ganzem und allen anderen schaden wir oft äußerst unverblümt. Die Konsequenzen sind in einer Lebenswelt wie der unseren, in welcher unsere alltäglichsten Entscheidungen solch weitreichende und meist weltweite Folgen aufweisen, nicht immer fühlbar. Klimawandel, Armut in Entwicklungsländern, weltpolitische Verwerfungen oder auch einfach die Folgen jugendlicher Alltagsentscheidungen liegen weit hinter räumlichem und zeitlichem Horizont der Handlung. Sie sind gedanklich jedoch vergleichsweise leicht zu fassen. Manche mögen meinen, das Scheitern der Menschen daran, sich solch fernen Konsequenzen nach zu richten, sei in einer Unfähigkeit des Begreifens oder einer Unwissenheit begründet. Doch selbst, wenn diese Hürden überwunden wurden, heißt das nicht, dass im Alltag Verantwortung für diese Konsequenzen übernommen wird.
Eine wichtige Unterscheidung lässt sich an dieser Stelle einbringen. Nämlich jene zwischen einem Verantwortungsbewusstsein und einem Verantwortungsgefühl. Dass es eine moralische Pflicht gibt, eine Handlung auszuführen oder zu unterlassen, muss der Mensch nicht nur begreifen, wir müssen es fühlen. Man kann sich ein Gefühl bewusst machen, man kann Gefühle zu Tode rationalisieren, man kann rationale Gedanken in Emotionen niederschlagen lassen.
Wenn die selbstzerstörerischen kleinen Handlungen in der Menschheit verhindert werden sollen, reicht das Bewusstsein allein nicht aus. Wir müssen die Konsequenzen nicht nur begreifen, sondern uns für diese verantwortlich fühlen. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch Kants kategorischer Imperativ seine Kraft nicht aus einer mathematik-ähnlichen Logik erhält, sondern maßgeblich gespeist wird durch die Vorstellung: “Was wäre, wenn alle…”. Szenarien, die unbewusst wie bewusst vor inneren Augen ablaufen und Gefühle auslösen. Natürlich ist ein argumentatives Gerüst wichtig, doch reicht es allein nicht aus, um menschliche Moral zu beleben.
Psychologen konnten dies gut aufzeigen. Man testete das moralische Urteilsvermögen von Heranwachsenden an Schulen wie man es seit Jahrzehnten machte. Zusätzlich fragte man die Altersgenossen, wen ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen sie als besonders moralisch wahrnehmen. Auch die Lehrer und Eltern wurden befragt. Im Nachhinein ließ man die Kinder und Jugendlichen sich zu ihrem Selbstbild äußern. Die Forscher stellten fest, dass moralisches Urteilsvermögen nur bedingt mit moralischem Verhalten und Erscheinen korreliert. Viel wichtiger war hier, ob sich die Personen als moralische Menschen identifizieren. Also genauer: Ob moralisches Verhalten in der Konzeption ihres Selbst eine große Rolle spielt. Dies zeigt, dass man sich selbst als verantwortlich sehen muss. Es reicht nicht aus, moralisch zu denken, um moralisch zu handeln. Die Moral muss anscheinend mit der eigenen Person verknüpft sein, um im Alltag zu greifen.
Weit entfernte Folgen sind schwieriger auf das Selbst zu beziehen. Sie kommen nicht so nahe, gehen nicht ans Gefühl. Verantwortung übernehmen ist kein Prozess des reinen Denkens – wen möge es überraschen. Hilfreich kann hier nun eine Instanz sein, welche einem das Gefühl gibt, diese moralische Pflicht wirklich auf sich nehmen zu müssen. Wer sich vorstellt, wie Gott, ein zukünftiges Selbst, der Staat oder die Nachfahren einen fragen, wieso ein klein wenig Zurückhaltung oder ein bisschen Verlust an Bequemlichkeit nicht akzeptiert werden konnte. Damit wir unsere Welt im Ganzen bewahren oder zu einem schöneren Ort machen. Das könnte bei der nächsten Handlung dem eigenen moralischem Urteil mehr Einfluss geben.
Ich, als Teil der Jugend, freue mich über eine Vorreiterin wie Greta, die diese Entscheidung nicht mehr nur jedem selbst überlässt. Denn die Nachfahren und die Zukunft stecken längst in und unter uns und müssen nicht metaphysisch erträumt werden. Wir sind die Zukunft. Ich wünsche mir mehr Menschen, die einfordern, dass diese Verantwortung speziell im Bereich Umweltschutz gefühlt und übernommen wird. Wir müssen diesen Anspruch als Instanz artikulieren. Wir müssen in Panik ausbrechen, auch das.
Lassen Sie uns dies als Pflicht begreifen, die Verantwortung für uns übernehmen, die Geschichte weiter schreiben und uns in kleinen Schritten immer weiter bringen. Unsere Natur können wir finden, indem wir uns über sie hinwegsetzen, leben und denken in Gegensätzen, aufklären, um Gefühle zu erwecken, jeder für jeden. Wir müssen auch keinen dicken Mann von einer Brücke schubsen. Wir können einfach ein bisschen langsamer fahren, oder ein paar mehr Gleise bauen.