Liebes Vorbild!
Brief von deiner imperfekten Erdenversion „Mensch“
Leider hast du keinen Namen, da es dich nicht gibt. Damit du einen Namen haben könntest, müsste es einen perfekten Menschen geben, der meinen hohen Anforderungen an ein potenzielles Vorbild in allen Aspekten gerecht wird. Und diesen Menschen gibt es nicht.
Dennoch schreibe ich dir einen Brief, denn es gibt dich schon, nur nicht in Form einer anderen real existierenden Person. Du bist eine Idee in meinem Kopf, eine Vorstellung eines perfekten Menschen, die Illusion einer perfekten Version meiner selbst.
Manchmal wünsche ich mir, du wärst nicht so unerreichbar. Manchmal bist du einfach nur ein überforderndes Ziel, das noch ewig weit entfernt scheint. Dann habe ich das Gefühl, niemals besser werden zu können, immer an dem Punkt stehen zu bleiben, an dem ich bin. Es ist anstrengend, immer und konstant an sich zu arbeiten und nach dir zu streben.
Natürlich weiß ich, dass es keine Perfektion gibt. Doch es gibt meine individuelle Vorstellung davon und diese kann ungemein motivierend, jedoch auch ungemein zermürbend sein. Ich liebe es, mich weiterzuentwickeln und nach dir zu streben, mein jetziges Verhalten mit deinem abzugleichen und es immer wieder anzupassen, doch gleichzeitig habe ich manchmal einfach nicht die Kraft oder die Zeit dazu. Ich glaube, das ist normal. Aber unsere Gesellschaft fordert, dass wir immer besser werden, immer effizienter, produktiver.
Aber ganz ehrlich, ich frage nun dich als perfektes Wesen, als Vorbild: Ist das notwendig? Müssen wir nach Perfektion streben, wissend, dass wir sie sowieso niemals erreichen können? Könnten wir nicht einfach so sein, wie wir sind. Perfekt in unserer Imperfektion? Oder ist es das, was wir im Endeffekt machen – perfekt sein in unserer Imperfektion, doch konstant an unserer Imperfektion arbeitend und nach Perfektion strebend. Wir werden nie perfekt sein, doch lohnt es sich, danach zu streben? Ist es richtig, gut, sich immer verbessern zu wollen?
Ich denke, ja. Nicht mit ungesund viel Druck, doch mit einem inneren Wille danach. Ich verspüre den Wunsch, mich weiterzuentwickeln, zu wachsen und Herausforderungen zu überwinden. Dazu gehört es auch, ein Bild von dir zu haben, ein Vorbild und danach zu streben. Wir müssen nur darauf achten, uns dabei selbst nicht kaputt zu machen, sondern in gesunden Ausmaßen zu streben und uns zu verändern.
Wahrscheinlich ist es wichtig, nach dir zu streben und zugleich sich selbst zu akzeptieren – zu wissen, dass man selbst gut ist, wie man ist, und dennoch den Willen zu haben, an sich zu arbeiten. Wir dürfen sein wie wir sind, doch wir sollten nach Wachstum streben. Könntest du mir vielleicht auch beschreiben, wie es so ist, perfekt zu sein oder zumindest als perfekt angesehen zu werden? Wie es ist, Vorbild zu sein, und ob das anstrengend ist? Das würde mich interessieren.
Bitte bleib bescheiden, auch, wenn so viele danach streben, so zu sein wie du und dich verherrlichen. Und ich würde ja schreiben „Bleib’, wie du bist“, doch ich denke, dass selbst du dich konstant veränderst und mit jeder neuen Erfahrung, die ich mache und mit jedem neuen Aspekt, der mir wichtig wird, wird das Bild, das ich von dir habe, ergänzt.
Danke, dass es dich gibt und du mich motivierst, weiter an mir zu arbeiten und mir Ziele gibst, auf die ich hinarbeiten kann.
Ich freue mich auf deine Antwort,
deine imperfekte Erdenversion „Mensch“