Ich sehe was, was du nicht siehst
Lernen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
„Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.“ (Galileo Galilei)
Lernen, laut Duden, ist der Vorgang „sich Wissen, Kenntnisse anzueignen, sich, seinem Gedächtnis einprägen“ oder aber auch „Fertigkeiten erwerben und im Laufe der Zeit [ durch Erfahrungen, Einsichten] zu einer bestimmten Einstellung, einem bestimmten Verhalten gelangen“.
Das leuchtet ein. Diese Bedeutungen kommen uns bekannt vor, weil wir den Begriff des Lernens im Alltag genau so beschreiben würden. Aber was steckt tatsächlich hinter dem Lernprozess?
Wenn man sich mit dem Thema: Lernen beschäftigt, kommt man nicht um den Konstruktivismus herum. Die individuelle Interpretation der Welt, das verbirgt sich, sehr einfach gesagt, hinter dem Begriff des Konstruktivismus.
Der Konstruktivismus (von lat. con– „zusammen mit“ und struere „bauen“) stellt Lernen als einen aktiven Konstruktionsprozess dar, in dem jeder Lernende eine individuelle, für sich völlig einzigartige Repräsentation der Welt erschafft. Was wir lernen, hängt dabei sehr stark von unserem Vorwissen und unserer konkreten Lernsituation ab.
Was bestimmt, vor allem in unserer Kindheit, unser Vorwissen und unsere konkrete Lernsituation? Unsere Umwelt! Zu dieser gehören maßgeblich unsere Eltern, Großeltern, die Räume und Orte, in denen wir aufwachsen und damit die Reize, die aus unserer Umwelt auf uns eintreffen und schließlich von unserem Gehirn verarbeitet werden.
Die Gehirnforschung bestätigt die Grundannahmen des Konstruktivismus. Unser Gehirn erhält über die Sinnesorgane verschiedene, bruchstückhafte Informationen über die Umwelt, aber unsere Wahrnehmung ist nicht die exakte Abbildung der Umwelt in unserem Gehirn, sondern eine phantasievolle Konstruktion einer inneren Welt. Jedes Gehirn hat einen eigenen Bauplan. Es verwendet zwar dieselben Werkzeuge (Synapsen, Neurotransmitter, elektrische Weiterleitungen etc.), aber unser Gehirn baut jeweils nach seinen eigenen Regeln. Jede Sekunde treffen auf unsere Sinnesorgane (Augen, Ohren, Haut) über eine Milliarde Reize, doch unserem Bewusstsein sind nur ca. 10 bis 16 Informationen pro Sekunde zugänglich. Das Bauprojekt ist unendlich! Unsere Wahrnehmung wird immer wieder neu zusammengestellt. Jede Sekunde verändert sich etwas.
Konsequenterweise schließt man aus der Theorie des Konstruktivismus darauf, dass die von den Menschen wahrgenommene Außenwelt nur ein Konstrukt des aktiven Gehirns ist. Jeder Mensch lebt also in seiner eigenen Wirklichkeit bzw. subjektiven Realität. Was du schmeckst, riechst oder hörst, das schmecke, rieche oder höre ich nicht. Wie die Realität ist, werden wir niemals wissen können, aber die Realität anzuzweifeln, würde bedeuten, unsere eigene Wirklichkeit anzuzweifeln.
Wie schließt man aus Lernen schließlich auf Bildung? Bildung stellt die Gesamtheit durch Lernprozesse, einschließlich Erziehung, die gewonnenen Erkenntnisse und Fähigkeiten dar. Wilhelm von Humboldt, der Bildungsreformer schlechthin, sah Bildung „als proportionierliche Entwicklung der Kräfte zu einem Ganzen“, also als wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt an. Erneut tritt der Gedanke des Menschen, als Gestalter seiner selbst und eben auch der Gesellschaft, hervor. Bildung und damit Lernen ist somit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In jedem Land. In jeder Kultur. In jeder Gesellschaft. Wir lernen miteinander, voneinander, gegeneinander, alleine, durch Fehler, durch Erfolge … also praktisch immer. Wir alle sind also Konstrukteure. Meine Welt ist nicht deine Welt! Faszinierend!