„Halten Sie sie, ich muss weg.“
Eine Geschichte über Verantwortung und Überforderung
Ist dir schon einmal etwas passiert, bei dem du die Hilfe eines anderen dringend gebraucht hättest? Nicht von einer Person, die du kennst, sondern von einem Fremden. Einem Menschen, der wie man selbst, plötzlich Verantwortung übernehmen müsste.
Zugegeben, ich hatte mir darüber keine Gedanken gemacht. Verantwortung lag bei meinen Eltern oder meinen Lehrern. Klar, auch bei mir, zum Beispiel mit dem richtigen Verhalten im Straßenverkehr. Es ist natürlich immer gut zu wissen, für was oder für wen man verantwortlich ist, aber manchmal sollte man es auch für Fremde sein. Wobei Fremde doch immer unsere Mitmenschen sind. Diese kleine Geschichte ist mir vor rund drei Jahren passiert. Sie hat mir drastisch deutlich gemacht, was Verantwortung ist.
Ich war damals 14 und machte meine Firmung. Die Woche zuvor war ich im Gottesdienst. Ich kann mich gut daran erinnern, dass die Messe von Nächstenliebe und der Bedeutung des „füreinander da seins“ handelte. Nach dem Ende der Messe ging ich nicht meinen Nachhauseweg, sondern bog in eine kleine Gasse ein, da ich noch zu einer Musikprobe musste.
Dort sah ich zwei Frauen, die eine etwa 30, die andere schon lange in Rente. Die jüngere Frau nahm mich auf einmal am Arm: „Halten Sie sie, ich muss weg.“. Ich war verwirrt und begriff nicht, weshalb sie das zu mir sagte, bevor sie kurz darauf weglief. Als die ältere Dame aufschaute, und ich ihr zum ersten Mal ins Gesicht sah, verstand ich es. Sie war über eine Kante im Bürgersteig gestolpert und auf ihr Gesicht gestürzt. Über dem Auge war eine deutliche Wunde, aus der Blut lief.
Ich wollte einen Krankenwagen rufen, aber die Dame widersprach, dass sie den nicht brauche. Sie hätte zuhause einen Notfallknopf und einen Erste-Hilfe-Kasten. Ich war klar überfordert, wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Keiner half mir. Die Gläubigen liefen vorbei. Ich tat nichts anderes, als sie ein paar Meter weit bis an ihre Haustür zu begleiten. Bis heute kann ich mich daran erinnern, wie das Blut auf den Boden tropfte.
Nachdem sie mich an der Tür abgewimmelt hatte, klingelte ich bei den Nachbarn. Ich erzählte ihnen, was passiert war, und bat sie, später bei der Dame vorbeizuschauen.
In der anschließende Musikprobe kamen mir immer wieder die Tränen. Ich stand unter Schock und war von der unerwarteten Situation überrannt. Was passiert war, wurde mir erst am Tag darauf klar.
Schlussendlich kann ich nur sagen, niemand fühlte sich an diesem Tag verpflichtet, mir und der Frau zu helfen. Da keiner bereit war, für eine Fremde Verantwortung zu übernehmen. Dadurch hat sich eine Geschichte, die für die christlichen Werte hätte stehen können, zu einem negativen Beispiel entwickelt. Ich bin mir sicher: Ich hätte geholfen, auch wenn ich nicht angesprochen worden wäre. Etwas anderes könnte ich alleine meinem Gewissen gegenüber nicht verantworten!