„Haben wir eine desolate Schulbildung!“
Interview von RAVOLUTIONÄRIN Lea Spitz mit einer Kollegin im Freiwilligendienst in Indien
Alena Schürings, Jahrgang 1993, studierte in Amsterdam Europäische Studien und Internationale Beziehungen. Derzeit absolviert sie den Freiwilligendienst weltwärts* in Chennai. Mit RAVOLUTION sprach sie unter anderem über ihr Projekt und die deutsche Schulbildung. Das Interview führt unsere „Auslandskorrespondentin“ Lea Spitz, Redakteurin bei RAVOLUTION seit der ersten Stunde, und selbst im Freiwilligendienst in Indien, direkt nach ihrem Abitur 2017 in Rastatt.
RAVOLUTION: Wie bist du auf die Idee gekommen, ein weltwärts-Jahr* zu machen?
Alena Schürings: Meine Tante hat mich auf die Idee gebracht. Ich wusste noch nicht, was ich als Master studieren sollte und konnte mir nicht vorstellen, schon in einem Jahr zu arbeiten. Sie hat mich auf das weltwärts-Programm hingewiesen und hat mir eine Website zur Recherche genannt.
RAVOLUTION: Warum verbringst du deinen Freiwilligendienst ausgerechnet in Indien?
Alena Schürings: Das war eine recht ungewöhnliche Entscheidung für mich. Mein Bruder war neun Monate in Nordindien, und ich wollte absolut nicht in seine Fußstapfen treten. Wir sind in Chennai, was ganz anders als Nordindien ist. Ich hatte ein Angebot für Ruanda und eines für Indien. Es gab mehrere Gründe, die für Indien sprachen. Zum Beispiel interessierte mich das Projekt hier mehr. Außerdem kann man in Indien besser reisen, da es in Ruanda keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. Ursprünglich hatte ich mich für Indonesien beworben, aber leider kann man dort kein weltwärts-Jahr verbringen.
RAVOLUTION: Wo arbeitest du? Was sind deine Aufgaben in deiner Arbeitsstelle?
Alena Schürings: Ich arbeite bei CWSn (Centre for Women Solidarity network). Das ist eine Organisation, die sich für die Ermächtigung von Frauen einsetzt. In erster Linie lerne ich dort. Es ist ein Lern-Freiwilligendienst. Im Augenblick sind meine Aufgaben recht einseitig. Ich recherchiere aktuelle Fälle von Gewalt oder Ungerechtigkeit gegenüber Frauen oder der ärmeren Bevölkerung. Auf der Facebookseite von CWSn poste ich diese dann. Facebook ist ein gutes Mittel, um Aufmerksamkeit auf diese Aspekte zu lenken. Außerdem wird CWSn dadurch bekannter. In den letzten Wochen habe ich Fokusgruppen zu Jugendarbeitslosigkeit besucht. Es wird nun meine Aufgabe sein, dazu Fragebögen auszuwerten. In Zukunft werde ich noch eine Produktivitätsstudie in einer NGO in Mamallapuram machen, die dazu beitragen soll, dass eine Frauengruppe einen Stickereibetrieb aufbauen kann.
RAVOLUTION: Du hast bereits deinen Bachelor gemacht. Fühlst du dich deshalb besser vorbereitet auf den Freiwilligendienst als ein_e Abiturient_in?
Alena Schürings: Ich bin es gewohnt, nicht mehr zu Hause zu wohnen. Das macht die Erfahrung für mich vielleicht anders. Da meine Tätigkeit hier sowieso nicht an mein Bachelorstudium anschließt, würde ich nicht unbedingt sagen, dass ich besser darauf vorbereitet war.
RAVOLUTION: Hast du das Gefühl, dass deine deutsche Schulbildung dich auf einen Auslandsaufenthalt generell und speziell im Globalen Süden vorbereitet hat?
Alena Schürings: Ich glaube eher nicht. Dadurch, dass ich Niederländisch in der Schule hatte, wurde ich eventuell mehr darauf vorbereitet, in die Niederlande zu gehen als andere. Für einen Aufenthalt im Globalen Süden aber wurde ich in der Schule überhaupt nicht vorbereitet.
RAVOLUTION: Bei dem Vorbereitungsseminar für den Freiwilligendienst kamen wir mit Themen wie Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialismus in Berührung. Wurden diese Themen in deiner Schulbildung in Deutschland angesprochen?
Alena Schürings: Kolonialismus eventuell ein bisschen im Geschichtsunterricht, jedoch nicht so, dass es mir präsent geblieben wäre. Postkolonialismus überhaupt nicht. Mann, haben wir eine desolate Schulbildung in Deutschland!
RAVOLUTION: Wurden diese Themen in deinem Studium in den Niederlanden angesprochen?
Alena Schürings: Kolonialismus definitiv. Postkolonialismus in meinem Nebenfach „Internationale Beziehungen“.
RAVOLUTION: Hast du dich bereits früher mit diesen Themen auseinander gesetzt?
Alena Schürings: Ich habe mich sehr mit Antisemitismus – also dem Rassismus gegenüber Juden – auseinandergesetzt. In der Holocaust-Gedenkstätte in Amsterdam war ich ehrenamtlich tätig. Außerdem habe ich mit meiner Tante und anderen Familienmitgliedern Gespräche über Rassismus geführt.
RAVOLUTION: Wenn du jetzt nach Deutschland zurückkehren würdest, was wäre eine neu erlernte Fähigkeit, die du auch in Deutschland anwenden kannst?
Alena Schürings: Ich kann mit der Hand waschen (lacht). Na ja, das konnte ich davor auch schon, aber jetzt habe ich Übung bekommen. Außerdem kann ich Chutneys und Dosa machen.
RAVOLUTION: Was hast du hier gelernt, was du in Deutschland vielleicht wieder verlernen wirst /musst /solltest?
Alena Schürings: (Wackelt mit dem Kopf und lacht). Die indische Art, um „Okay“ oder „Ja“ oder „Danke“ auszudrücken, indem man mit dem Kopf wackelt.
RAVOLUTION: Werden deine Mitmenschen Veränderungen an dir bemerken, wenn du wieder in Deutschland bist? Und wenn ja, welche werden das sein?
Alena Schürings: Ich hoffe, dass meine Mitmenschen mich als selbstständiger wahrnehmen. Und dass ich für meine Wünsche einstehen kann.
RAVOLUTION: Denkst du, dass es für diese Selbstständigkeit, die du erreichen möchtest, wichtig ist, außerhalb von Europa zu sein? Du hast bereits vier Jahre während deines Studiums in einem anderen Land gewohnt.
Alena Schürings: Ich denke, das ist ein Prozess, der bereits da begonnen hat. Verhältnismäßig war ich jedoch noch oft während meines Studiums in meinem Elternhaus, da es nur vier Stunden entfernt war. Jetzt werde ich das ganze Jahr meine Familie nicht sehen. Deutschland und die Niederlande sind sich auch sehr ähnlich und ich spreche fließend Niederländisch. Daher war das kein so großer Unterschied wie zu Indien. Wahrscheinlich werde ich alleine in Indien reisen – das wird auch nochmal einen Unterschied machen.
RAVOLUTION: Hast du zusammengefasst mehr bei deiner Arbeit hier gelernt oder mehr in der Freizeit?
Alena Schürings: Es gibt formelles und informelles Lernen. Formell habe ich generell nicht viel gelernt, da meine Arbeit mich intellektuell nicht stark fordert. Während meiner Feldbesuche habe ich jedoch ländlichere Gegenden gesehen. Das war sehr interessant. Privat wohne ich zum ersten Mal in einer WG. Ich bin vielleicht etwas häuslicher geworden, dadurch dass ich meine Wäsche von Hand wasche und mein Zimmer öfter putzen muss, weil alles hier schneller staubig wird. Ich glaube, ich kann nicht sagen, ob ich bei der Arbeit oder in der Freizeit mehr gelernt habe.
RAVOLUTION: Vielen Dank für das Interview!
Mehr Infos:
*weltwärts ist ein Programm des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ). Es ermöglicht 18- bis 28-Jährigen einen einjährigen Auslandsaufenthalt im Globalen Süden. Die Teilnehmer des Programms arbeiten während des Jahres in sozialen oder ökologischen Projekten als Freiwillige. Dafür wird ihnen Kost und Logis gewährt. Fünfundsiebzig Prozent der Kosten übernimmt das BMZ. Die übrigen fünfundzwanzig Prozent werden durch einen Spendenkreis finanziert. Diesen muss der Freiwillige selbst aufbauen. Weitere Informationen gibt es hier: https://www.weltwaerts.de/de/