„Es wurde verantwortungslos gehandelt“
Gastbeitrag von Pfarrer Ralf Dickerhof, der dem Thema Missbrauch nicht ausweicht
Geschafft! Bis eben saß ich noch am Gottesdienst für heute Abend. Elisabethtag ist heute. Der 19. November. Und mit den Mitarbeitenden der Sozialstation St. Elisabeth feiere ich diese große Heilige der Nächstenliebe. Das finde ich wichtig: denn demenzkrank sind wir alle. Sprich, wir sind vergesslich. Ziemlich vergesslich sogar. Deshalb „alle Jahre wieder“ feiern wir gemeinsam diese Leuchtgestalt ihrer Zeit. Dass ihr Lebensbeispiel nicht vergessen wird. Weil sie Verantwortung zeigte. Zu hundert Prozent.
Verantwortung für ihre Familie, für ihre Kinder. Verantwortung für die Kranken und Armen. Ist das selbstverständlich? Ich meine nicht. Das lehrt uns auch das Gleichnis Jesu, das ich nachher dann vorlesen werde, wo von einem Schwerverletzten berichtet wird, der übel zugerichtet wurde. Ein Priester kommt vorbei – geht aber einfach weiter. Ein Tempeldiener kommt vorbei – und geht auch weiter. Ein Samariter kommt vorbei – und er bleibt stehen. Er nimmt sich Zeit, kümmert sich um den Verletzten, und legt Geld auf den Tisch, damit der Verletzte die beste Behandlung erfährt. Er übernimmt Verantwortung für den Fremden. Er handelt barmherzig. Warmherzig. Menschlich eben.
Selbstverständlich aber ist das nicht – leider. Die Scheuklappen abzunehmen. Die Augen und Ohren offenzuhalten. Die Herzen nicht erstarren zu lassen. In uns gibt es auch diese Tendenzen, uns einzuigeln. Wegzuschauen. Hauptsache alles ausblenden können. Nach dem Motto: Ich bin mir selbst der Nächste. Was kümmert mich der Rest der Welt.
Da kann ich nur sagen: Hilfe! Kältealarm. Da lobe ich mir jeden, der diese Ego-Tendenzen abwehrt und sich, in Abwandlung eines Zitats von John F. Kennedy, nicht fragt, was Andere für ihn tun können, sondern was er für Andere tun kann. Freiwillige vor! Bitte keine falsche Scheu an den Tag legen. Jeder kann was.
Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen für andere, finden sich, Gott sei Dank, überall. Auch in der Kirche. Ich bin dankbar für die vielen Jugend-Leiterinnen und Leiter, die die Gruppenstunden vorbereiten, die Sommer/Winterfreizeiten durchführen, Verantwortung für die Jüngeren und für ein gutes Miteinander in der Gruppe übernehmen. Die auf Fortbildungen und Seminare gehen, oft in den Schul- und Semesterferien, um sich für ihre Aufgabe entsprechend ausbilden zu lassen, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Gerade auch im Blick auf unsere ehrenamtlichen Leiterinnen und Leiter schäme ich mich für das, was durch hauptamtliche Mitarbeiter der Kirche den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen angetan wurde. Wo ein Klima des Wegschauens herrschte, wie im Gleichnis, wo vom wegschauenden Priester und Tempeldiener die Rede war, so dass passieren konnte, was passiert ist. Es wurde verantwortungslos gehandelt. Und es wird lange Zeit brauchen, um das verlorene Vertrauen zurück zu gewinnen. Und es wird lange Zeit brauchen, wohl ein ganzes Leben lang, um bei den Opfern die Wunden heilen zu lassen, die ihnen zugefügt wurden.
Wenn Verantwortung ausgenutzt wird, wenn Verantwortung nicht wahrgenommen wird, wenn sie abgeschoben wird auf andere, dann wird es problematisch. Bisweilen genügt dann schon eine Person, die aufsteht und die Fassade einstürzen lässt. Und den Finger in die Wunde legt. Dazu braucht es Courage und Stehvermögen. Beides wünsche ich unserer Gesellschaft, und auch der Kirche, der ich angehöre: Dass es immer Menschen mit Courage und Stehvermögen gibt, die nicht wegschauen, sondern sich einmischen. Auch wenn es unbequem wird. Die schlicht und ergreifend Verantwortung zeigen.