Dieser Mann inspirierte mich!
Von der überraschenden Begegnung mit einem Alltagstypen
Ich habe mich nie wirklich gefragt, wer ein „Vorbild“ für mich ist und warum das so ist. Es war oder ist eben einfach so und ergab sich über die Jahre hinweg aus meinen Interessen. Ich bewundere Fußballer und andere Sportler, Musiker und Filmstars, manchmal sogar Politiker. Denn Sie leben mir das vor, was mich reizt, was ich auch erreichen möchte. Sie sind erfolgreich, anerkannt und meistens ziemlich reich. Eigentlich doch ganz erstrebenswert, oder nicht?
Auch wenn es plump klingt, so denke ich im Grunde genommen immer noch. Das hier wird also kein wutentbrannter Rundumschlag gegen „falsche“ oder oberflächliche Vorbilder. Denn es ist nichts falsch daran, einen Fußballstar für sein hartes Training, einen Schauspieler für seine Überzeugungskraft, oder eben einen Politiker für seine Eloquenz zu bewundern. Nein, es ist wichtig und richtig, dass manche Vorbilder ganz bewusst unerreichbar sind.
Dennoch resultiert aus dieser Unerreichbarkeit eine gewisse Distanz zu diesen Persönlichkeiten, eine Distanz, die das Vorbildliche an ihnen auf einen oft primitiv simplen Kern reduziert: Der Fußballer sagt mir: „Harte Arbeit zahlt sich (wortwörtlich) aus.“ Der Schauspieler: „Verfolge deine Träume.“ Und der Politiker: „Es lohnt sich, für seine Sache zu kämpfen.“ So pathetisch diese Sätze klingen mögen, so unsinnig sind sie. Sind sie im Grunde doch nichts anderes als leere Phrasen irgendwelcher wildfremden Personen, die immer und immer wieder wiederholt werden und sich so in unser Gedächtnis einbrennen. Eine besondere Wirkung haben sie nur in den seltensten Fällen. Zumindest habe ich mir nach „Verfolge deine Träume“-Phrasen noch nie gedacht: Oh, stimmt ja, das hätte ich ja fast vergessen.
Denn auch wenn ich solche Personen bewundere und oftmals davon träume, so wie sie zu sein, bleibt ein Effekt aus, der etwas zu einer wirklichen Veränderung beitragen würde. Somit haben diese „Vorbilder“ ihren Zweck verfehlt. Bewusster denn je ist mir diese Tatsache vor einigen Wochen geworden. Erst im Nachhinein habe ich erkannt, dass eine bestimmte Begegnung mir aus dem Nichts ein Vorbild lieferte. Es hat weder meine Sicht auf die Welt verändert, noch mir WhatsApp-Status-reife Aussagen an den Kopf geworfen. Im Gegenteil. Mir hat ein durch und durch gewöhnlicher Mensch zutiefst imponiert.
Zu dieser Begegnung kam es recht zufällig. Ich musste für ein Schulprojekt eine Besorgung machen, auf die ich keine Lust hatte, und musste in ein Geschäft, in das ich nie freiwillig gehen würde. Als ich es betrat, kam es zu eben jener Begegnung, die mich für lange Zeit nicht mehr los ließ. Das kleine Geschäft war leer, unordentlich und nicht sonderlich einladend. Als der Geschäftsinhaber und offensichtlich alleinige Mitarbeiter nach gefühlten drei Minuten hustend durch eine Hintertür in den Verkaufsraum stolperte, ahnte ich noch nichts davon, was nun folgen würde. Vor mir stand ein überdurchschnittlich großer, in die Jahre gekommener Mann.
Seine gräulichen Locken hatte er zu einem Zopf zurückgebunden und das Shirt, das über seinen beachtlichen Wohlstandsbauch spannte, war von seiner Arbeit verschmutzt. Kurzum, es gab auf den ersten Blick nichts, was ihn und mich hätte verbinden können. Und dennoch kam es, wie genau weiß ich nicht mehr, zu einem anfangs noch recht oberflächlichem Gespräch. Schnell wurde mir klar, dass dieser Mann mehr zu erzählen hat, als ich es vermutete. Ich habe das Geschäft nach geschlagenen zweieinhalb Stunden verlassen. Wir sprachen über Politik, Gott, das Wetter und das Reisen. Und dieser Mann, von dem ich mich anfangs nur widerwillig in ein Gespräch verwickeln ließ, wurde innerhalb dieser Zeit zu einem wahren Vorbild.
Dieser in die Jahre gekommene, auf den ersten Blick nicht sonderlich sympathisch wirkende Typ, hatte mir so unglaublich viel beizubringen. Er erzählte mir von seinem zweimal abgebrochenen Philosophiestudium, seinen Reisen in die Staaten, seinen politischen Auffassungen und seinen philosophischen Thesen. Manchmal musste ich schmunzeln, wenn er ins Schwärmen geriet und merkte, wie es ihm gut tat, einfach drauf los zu reden. In so kurzer Zeit hatten wir mehrere Meinungsverschiedenheiten, bis sich das Gespräch immer wieder in eine andere Richtung wand. Und doch konnte ich einige Dinge mitnehmen, die mich bis heute beschäftigen. Er sprach vom „Pathologisieren des Andersartigen“, also dem Krankerklären des Fremden, das eine urmenschliche Eigenschaft sei. Seine Lösung: „Friedensattentate“.
„Gehen Sie doch einfach mal zu einem Polizisten, schütteln Sie ihm die Hand, sagen Danke und gehen. Glauben Sie mir, solche überraschenden Momente können wahre Kettenreaktionen auslösen.“ Noch habe ich diesen Ratschlag nicht befolgt. Aber ich habe mich dabei erwischt, auf andere für sie überraschend freundlich zu wirken. Und mich über die Reaktionen gefreut.
Dieser Mann wurde innerhalb zweieinhalb Stunden zu einem Vorbild für mich. Und eben nicht zu einem „Lebe deinen Traum“-Vorbild. Er ist mir ein Vorbild geworden, das mir in dieser kurzen Zeit vorlebte, wie einfach manche Dinge sein können. Und mich zum Ausprobieren inspirierte. Und damit war er um so einiges erfolgreicher, als die ausgelutschten Phrasen der großen Stars. Er wurde mir zu einem wahren Alltagsvorbild.