Die Jagd nach Aufmerksamkeit
Wenn YouTuber zum Vorbild werden und reale Personen ersetzen
Wir werden geboren und wissen rein gar nichts über die Welt da draußen, der wir nun angehören. Wir sind für einen ganz kurzen Moment rein und unberührt, bis der „erste“ Reiz auf uns eintrifft und erste Spur hinterlässt – schon sind wir geprägt. Und das geht immer so weiter. Ein Leben lang.
Einige widersprechen und entgegnen, dass der Einfluss auf neues Leben bereits im Mutterleib beginnt. Angefangen bei der Nahrung, die die Mutter zu sich nimmt, welche Musik sie hört, ob sie Sport treibt, eine gute Beziehung zum Kindsvater hat oder währen der Schwangerschaft viel Stress ausgesetzt ist. Das mag auch so sein, aber die „Reizflut“, worauf das Neugeborene aktiv reagieren kann, beginnt nun mal erst nach der Geburt. Nicht mehr schwebend in unserem schützenden Fruchtwasser, liegen wir plötzlich in den Armen unserer Mutter. Unserer Göttin. So denken wir zwar nicht in diesem Moment, aber sie ist es, die unsere Bedürfnisse erkennt, die uns mit ihrer Muttermilch stillt, die unsere Windel wechselt, die uns beruhigt, wenn wir mit Koliken oder einer verstopften Nase zu kämpfen haben. Und dann ist da noch unser Vater. Unser Gott. Anfangs noch unsicher und überfordert, findet er sich in seiner neuen Rolle als Vater langsam zurecht. Er versucht sich in den Dingen, die unsere Mutter wie ein Profi beherrscht und fördert unsere Exploration. Er ist unser Beschützer, aber er ist auch eine Autoritätsperson.
Wir beobachten und beobachten und beobachten. Wir saugen alles auf. Wir sind wie Schwämme, nur dass wir nie vollgesaugt sind, sondern immer weiter aufsaugen und uns das Aufgesaugte mehr oder weniger aneignen. Dieses „Beobachten“ bezeichnet der bekannte kanadische Psychologe Albert Bandura als „Modelllernen“. Dabei lernen wir vollkommen neue Verhaltensweisen und Einstellungen, in dem wir diese bei anderen wahrnehmen, beobachten und nachahmen. Wie viel Aufmerksamkeit einem Modell entgegengebracht wird, ist abhängig von den Persönlichkeitsmerkmalen des Modells als auch von denen des Beobachters sowie von der Beziehung zwischen Modell und Beobachter. Eine gute Beziehung sowie Selbstvertrauen des Beobachters fördern die Vorbildfunktion des Modells. Da die Eltern im Regelfall die ersten Bezugspersonen des Kindes sind, entwickeln sie sich auch zu den ersten Vorbildern. Später, vor allem in der Pubertät, in der Hochphase unserer Identitätsentwicklung, nehmen andere Faktoren entscheidenden Einfluss auf unsere Vorbilderwahl. Wir probieren verschiedene Dinge aus, verbringen viel Zeit in unsere Peergroup, entdecken die sozialen Medien, Bücher, Trends, Musik usw. für uns.
Gerade die sozialen Medien scheinen einen großen Einfluss auf unsere Vorbilderwahl zu haben. Instagram und YouTube-Stars suggerieren, dass jeder berühmt werden kann: The American Dream, but for everyone around the world, auch für das junge Mädchen aus dem 500-Seelendorf. Laut einer Studie von Bitkom gibt jeder dritte Jugendliche einen YouTube-Star als Idol an, also noch vor Schauspielen oder Sportlern. Die Begründung liefert wieder einmal Bandura mit seiner sozial-kognitiven Theorie. Gerade im Jugendalter suchen wir uns diejenigen als Vorbilder aus, die eine Ähnlichkeit mit einem selbst haben und denen man leicht nacheifern kann. YouTube- oder Instagram-Stars scheinen dabei die richtige Wahl zu sein. Das Mädchen von nebenan, das innerhalb eines Jahres über eine Million Follower dazugewonnen hat, nur, weil sie sich in ihrem Zimmer geschminkt und diese Videos hochgeladen hat. „Ich bin auch das Mädchen von nebenan, also kann ich es genauso „weit“ schaffen“. Solche Vorstellungen haben vor allem Mädchen in ihrer Pubertät und lassen sich besonders leicht durch soziale Medien beeinflussen. Laut der Psychologin Catarina Katzer nehmen sich 85 Prozent der magersüchtigen jungen Mädchen dünne Influencer zum Vorbild.
Durch die Vorstellung, man könne den YouTube-Stars X und Y bei den täglichen Bauch-Beine-Po-Übungen, dem Gewichtheben und den Schmink-Tutorials nacheifern, beginnt die „Jagd“ nach Aufmerksamkeit. Menschen hatten schon immer das Bedürfnis sich ins Szene zu setzen. Doch durch die leichte Selbstinszenierung in sozialen Netzwerken beginnt der Teufelskreis von Bestätigung und Ablehnung. Und was wird dabei bewertet? Die Oberfläche! Wie ist der Köper definiert? Wie glanzvoll ist das Haar? Wie weiß sind die Zähne? Welche Aufputschmittel nimmt er, damit ich genauso aussehen kann? Der Fragenkatalog könnte endlos fortgeführt werden. Je attraktiver, desto mehr Herzen und Thumbs-Up bekommt man als Resonanz auf die Selbstinszenierung. Dabei steigt der Druck auf die jungen Mädchen und Jungen. Irgendwann reichen nicht mehr 1.500 Likes, beim nächsten Video sollen es schon 150.000 Likes sein. Und was ist mit den Produkten, die mein „Idol“ in seinen Videos präsentiert? Die will man nun plötzlich auch.
Soziale Medien haben den Vorteil, dass man ganz leicht und sehr schnell Informationen verbreiten und austauschen kann, doch das, was aktuell vorgeht, ist kein produktiver Austausch mehr. Die Selbstinszenierung führt zu Aufmerksamkeits- und Konsumsucht und fördert auch noch die Bildung sowie die Verfestigung von Vorurteilen. Und was, wenn die Aufmerksamkeit ausbleibt? Dann warten meist schon Minderwertigkeitskomplexe, Depressionen oder Essstörungen auf einen.
Prävention kann jeder betreiben. Eltern, Schulen, Sportvereine, Jugendhäuser etc. sind aufgefordert, für einen dauerhaften Diskurs über die Gefahren der Selbstinszenierung in sozialen Medien zu Sorgen. Aber auch wir selbst sollten Herr unseres Verstandes sein und nicht die Verantwortung auf Eltern und Institutionen abschieben. Jeder kann sich mit Männern- und Frauenbildern auseinandersetzen, mit Freunden und Verwandten darüber diskutieren und sich selber fragen, ob man aktuell eine Vorbildfunktion einnimmt und wenn es auch nur für die kleine Schwester oder den kleinen Bruder ist.