Der Spiegel – Freund oder Feind
Die komplizierte Beziehung mit uns selbst
Täglich schauen wir mehrmals in den Spiegel – beim Anziehen, Zähneputzen, Haare machen, und zu jeder anderen Gelegenheit, die sich uns bietet, in reflektierende Fensterscheiben oder dem Innenspiegel im Auto. Doch gerade dieses Selbstbetrachten hat erhebliche Auswirkungen auf unser Selbstwertgefühl und das glücklich sein mit unserem Aussehen. Entsprechend unserer Zufriedenheit mit dem, was wir im Spiegel sehen, wird dieser entweder zu unserem Freund oder unserem Feind.
Wie oft wir uns selbst betrachten, ist den Meisten gar nicht bewusst. Doch durch das ständige Überprüfen der Frisur, des Pullovers oder des Make-Ups konfrontieren wir uns permanent mit unseren Makeln und sind unzufrieden. Ohne Spiegel wären wir uns unserer Schwachstellen gar nicht so bewusst und sie würden uns nicht mehr so sehr stören. Hautunreinheiten, ein Bauchansatz oder eine nicht perfekte Frisur würden uns einfach nicht auffallen und dementsprechend würde es uns auch nichts ausmachen. Doch die tägliche Konfrontation mit unseren äußerlichen Schwächen führt zu einer Selbstobjektifizierung, was bedeutet, dass wir uns immer mehr als Objekt statt als individuelle Person betrachten und bewerten.
Der Spiegel hat auch gute Seiten. Er ermöglicht es uns, auf ein gepflegtes Aussehen zu achten, uns selbst zu erkennen und unsere Individualität über Kleidung, Frisur und Schminke darzustellen. Dementsprechend kann der Spiegel selbst nicht angeklagt werden – aber die Weise, wie und wie oft wir ihn nutzen und wie wir auf unser Spiegelbild reagieren.
Eine amerikanische Soziologin machte einen Selbstversuch und verzichtete für 365 Tage auf alle Formen des Spiegels. Auch reflektierende Flächen in der Öffentlichkeit mied sie so gut es ging. Ihr Ergebnis: „Ich fühle mich wohler in meinem Körper und mache mir weniger Druck.“. Zudem erzählt sie in einem Interview mit dem Magazin „Psychologie Heute“, dass sie sich an ihren äußerlichen Defiziten nicht mehr so sehr stört wir früher. Sie habe erkannt, dass ihr Aussehen keinen Einfluss darauf hat, wie ihre Freunde und ihre Familie sie behandeln. Dadurch macht ihr Aussehen heute nur noch einen sehr kleinen Teil ihrer Identität aus. Das Spiegelfasten hält sie für ein sehr gutes Selbstexperiment, um herauszufinden, in welchem Maß Äußerlichkeiten mit dem Selbstwertgefühl zusammenhängen.
Der vollkommene Verzicht auf Spiegel ist sicherlich nicht notwendig, um ihn mehr zu einem Freund als zu einem Feind zu machen. Doch ein bewusster Umgang mit dem Spiegelbild und dem Ausmaß der Spiegelnutzung ist hilfreich und empfehlenswert. Die Akzeptanz ist wichtig. Es muss keine übermäßige Liebe zu seinem eigenen Spiegelbild sein, doch es sollte auch nicht unglücklich machen. Letztendlich soll ein Spiegel dem Menschen einfach nur zum Selbstbetrachten dienen und einen positiven Nutzen bringen, nicht dazu führen, dass einige in negative Gedankenspiralen verfallen und beginnen den Spiegel – und ihren eigenen Körper – zu hassen. Ein Hoch auf den Spiegel – und unser Selbstbewusstsein.
Foto: Sandra Overlack, fotografiert von ihrer Mutter Federica Paganelli Overlack