… Arbeitnehmern: Habe Mut, dich zu öffnen!
Die Arbeitswelt von heute ist verwirrend. Einerseits soll man verlässlich, strukturiert und wettbewerbsorientiert arbeiten und andererseits sollen wir kreativ, dynamisch und frei sein. Aus meiner Perspektive nehme ich immer mehr ellenbogensausfahrende Menschen wahr, die sich nur über die Stichpunkte auf ihrem Lebenslauf definieren. Gut funktionierende Menschen, aber wenn ich funktionieren muss, bin ich denn dann noch frei? Kann ich glücklich sein?
Wir sollen weltoffen, sprachgewandt, teamfähig und flexibel sein. All diese Erwartungen führen zu aufkommenden Ängsten und sich anstauenden Druck. Was, wenn ich nur drei Sprachen fließend beherrsche, statt wie erwünscht fünf? Was, wenn ich keine Lust habe, erst mit einem grauen Kopf eine Familie zu gründen? Was, wenn ich nie länger als vier Wochen im Ausland verbracht habe? Wird mein Job durch einen Roboter ersetzt? Wie viele Umschulungen muss ich machen, damit ich überhaupt noch eingestellt werde? Was ist mit meiner Rente?
All diese Fragen schwirren mir und Millionen anderer im Kopf herum. Manchmal weniger, manchmal mehr. Und in dieser scheinhaft perfekten Welt bleibt überhaupt kein Platz, um offen über psychische Störungen zu reden. Denn psychische Störungen, wie Burnout oder Depressionen sind zwangsläufig die Folge, wenn wir dauerhaft unter Zeitdruck stehen, hohen und wechselnden Erwartungen ausgesetzt sind, eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten haben sowie dauerhaft überfordert oder unterfordert sind. Im Sinne von: Wenn man nicht darüber redet, existiert das Problem auch nicht.
Wenn ich mir zum Beispiel Ute, unsere Chefredakteurin von Ravolution, am Fließband eines Unternehmens vorstelle, denke ich an Rilkes Panther. Eingesperrt, weil sie ihrer Kreativität keinen freien Lauf lassen dürfte. Was für eine Verschwendung!
Der Hambacher Forst soll gerodet werden. Was tun wir, die, die den Klimawandel als Bedrohung ansehen? Wir demonstrieren! Genauso gegen Kindesmissbrauch, gegen die Inhaftierung von Journalisten und Menschenrechtlern. Gegen alles, was uns Angst macht, was wir selbst nicht erleben wollen und weil wir solidarisch sind mit denen, die da gerade durchmüssen, und mit denen, die zukünftig auf diesem Planeten leben werden. Warum also auch nicht verantwortungsbewusst mit dem Thema psychische Störungen umgehen? Und damit ist vor allem auch die Politik aufgefordert, was dagegen zu tun.
Laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) erleben ca. 25 % der Europäer in einem Jahr Depressions- oder Angstzustände. Bis zu 50 % der längeren Fehlzeiten treten aufgrund von Depressionen bzw. Angstzuständen auf. Und auf schockierender Weise werden über 50 % der schweren Depressionen nicht behandelt.
Sowohl unsere Volksvertreter, als auch die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer entscheiden, ob wir einen offenen Diskurs über psychische Erkrankungen führen wollen und somit einen Raum schaffen, in dem sich Betroffene, ohne sich schämen zu müssen, Hilfe suchen können und auch ernst genommen werden.
Habe Mut dich zu öffnen, doch habe auch Mut, den Raum dafür zu schaffen!