Brauchen wir überhaupt Vorbilder?
Von falschen Idolen, wahren Helden und wie wir den richtigen Umgang mit ihnen lernen
„We don’t need another hero“, sang Tina Turner bereits 1985. Brauchen wir überhaupt Vorbilder? Oder stellen Vorbilder sogar eine Gefahr dar? Was ist ein Vorbild überhaupt? Laut Duden eine „Person oder Sache, die als [idealisiertes] Muster, als Beispiel angesehen wird, nach dem man sich richtet“. Als Synonyme werden dort Beispiel, Modell und Muster genannt, aber auch Held, Heldin und sogar Abgott und Abgöttin. Das hört sich für mich zu sehr nach Verehrung an.
Im Kindesalter nutzen wir ständig Vorbilder. Ohne Vorbilder könnten wir weder laufen, noch sprechen. Offensichtlich brauchen wir Vorbilder, um elementare Dinge des Menschseins zu erlernen. Je älter man wird, desto selbstständiger wird man – desto weniger braucht man ein Vorbild. Oder? Als kleine Kinder sagen wir vielleicht: „Wenn ich groß bin, dann will ich so sein wie du!“ Und wenn wir groß sind, was sagen wir dann?
Natürlich können wir uns immer weiter entwickeln, können uns noch immer unserem Vorbild nähern. Jedoch nur bis zu einem bestimmten Grad. Jeder Mensch ist einzigartig und kann in dieser Einzigartigkeit niemals eine exakte Kopie eines anderen werden. Überhaupt: Wieso sollte das denn erstrebenswert sein? Für mich klingt das beinahe nach Selbstverleugnung. Ich hechele einem Vorbild hinterher und vergesse dabei, was ich kann, und wer ich bin.
Ich frage Annka, meine Mitbewohnerin, ob sie ein Vorbild hat, und wenn ja, wer das ist. Sie nennt unter anderem Chimamanda Ngozi Adichie – und das obwohl sie gar keine Schriftstellerin werden will. Sie nennt auch Karl Marx. Ich bekomme den Eindruck, dass sie nicht danach verlangt, genau wie ihre Vorbilder zu werden. Aber was ist dann ein Vorbild?
Die Psychologie kennt verschiedene Differenzierungen für das, was im Allgemeinen als Vorbild betitelt wird. Es gibt unterschiedliche Grade, wie sehr man jemandem nacheifert oder eine Person verehrt. Letztendlich ist es jedoch das Idol, welches das ultimative Vorbild darstellt. „Meyer Neues Lexikon beschreibt ein Idol als „(falsches) Leitbild, Trugbild; jemand oder etwas als Gegenstand übermäßiger Verehrung“. Wichtig bei Idolen ist, dass diese Verehrung ins Irrationale, ins Mystische gleitet. Anders als Stars haben sie wieder mehr Vorbildcharakter. Der ist aber diffus, verklärt und verwachsen. Einen Star kann man lieben, aber dabei man selbst bleiben. Idole rufen zur Gefolgschaft auf. Ein Idol ist kein Mensch aus Fleisch und Blut mehr, es ist unsterblich.“
Margarete Mitscherlich schrieb: „Was die kollektive Verehrung von Personen angeht, sind wir zu Recht vorsichtig geworden. Durch unsere autoritäre Tradition waren wir dafür sehr anfällig. Wir sehnten uns immer nach irgendwelchen Göttern, die uns beschützten. Und nachdem die Religion uns dann nicht so ganz das Richtige zu sein schien, haben wir Hitler zu Gott gemacht. Diesen kompletten Loser, der wirklich keinerlei Begabung und Vorzüge hatte. Danach konnte es keine Götter mehr geben.“
Stellen Vorbilder also sogar eine große Gefahr dar? Sollten wir Vorbilder meiden, damit wir sie nicht versehentlich zum Idol oder zum Gott erklären? Ein Vorbild zu haben, wird dann gefährlich, wenn wir die Menschlichkeit der jeweiligen Person nicht mehr sehen. Wenn wir einen Abgott erschaffen haben und diesem nacheifern, ohne jegliches Gefühl für unser Selbst. Dann verlieren wir das, was uns ausmacht. Sollte man deshalb auf Vorbilder verzichten? Der Grat zwischen Vorbild und Idol kann schmal sein, muss er aber nicht. Mit ein bisschen Verstand kann ich mir „gesunde“ Vorbilder suchen, die mich nicht von mir wegtreiben.
Meine Mitbewohnerin meint, dass auch ihre FreundInnen Vorbilder für sie sind. Einfach weil sie gerne ihre Meinung hört, sie ihr wichtig sind und sie sie respektiert. Das ist eine sehr gesunde Einstellung zu Vorbildern. Wir werden Menschen, die uns nahe stehen, wahrscheinlich nicht so schnell zum Idol erheben. Wieso? Weil wir wissen, wie bescheuert sie sein können! Wir kennen ihre Schwächen, wir kennen ihre Makel, wir kennen ihre Menschlichkeit – und deshalb können wir sie nicht als Götter sehen.
Aber was sind denn nun „gesunde“ Vorbilder? Ich schätze, es sind Personen, die mich inspirieren, mein Leben aber nicht diktieren. Personen, die mir Mut machen, ich selbst zu sein. Personen, die uns zu uns selbst zurück bringen, wenn wir im Angesicht des Chaos’ der Welt verloren gehen – weil wir in ihnen einen Teil von uns selbst erkennen.