Aussterben in Würde
Science fiction: Ein Tag im Jahr 2167
Immer wenn Menschen die Zukunft voraussehen wollen, geht das schief. Trotzdem machen sie weiter. Und jetzt will ich auch mal! Hier ist mein Versuch – der schon im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist: Ein Tag im Jahr 2167. Und so stelle ich es mir vor:
Wenn ich morgens geweckt werde, bin ich mir bewusst, dass ich der neuen Spezies Mensch angehöre – Homo sapiens survival. Der Mensch, der überlebt. Es gibt circa 500 von unserer Art. Wir sind die letzten Überlebenden – abgesehen von denen, die angeblich mit dem Raumschiff die Biege gemacht haben. Sie wurden ausgesandt, neue Planeten zu suchen. Das ist aber so lange her, dass niemand weiß, ob das nicht bloß eine Legende ist.
Mein Wecker schrillt, und ich gehe als erstes nach draußen. Ich lasse die stickige Luft der Höhlen hinter mir und atme den Duft des Meeres ein. Das Meer ist allgegenwärtig. Himalaya – unser Land – ist umgeben von Wasser, soweit das Auge reicht. Es gibt Theorien, dass es noch andere Ãœberlebende der Großen Flut gibt – irgendwo auf der anderen Seite der Erde. Ich weiß nicht, ob es einen Unterschied machen würde.
Vor der Großen Flut war unser Land unbewohnt. Einige Wissenschaftler sahen die Naturkatastrophe jedoch kommen und richteten Häuser, Labore und technische Geräte hier ein. Sie waren die ersten Siedler des Gebiets. Alle Menschen, die hier wohnen, sind irgendwie mit diesen Wissenschaftlern verwandt – davon geht man jedenfalls aus. Die Große Flut rottete beinahe die gesamte Menschheit aus. Wenn man im Osten an der Wasserkante spazieren geht, kann man noch immer jede Menge Menschenknochen finden. Von Zeit zu Zeit werden sogar ganze Skelette angespült.
 Am Horizont entdecke ich Wale, die aus dem Wasser springen. Ich freue mich, denn dies ist das Zeichen für den Beginn der Walsaison. Und es gibt nichts Besseres als frisches Walfleisch! Ich beuge mich nach vorne und kratze ein paar Algen ab, die an der Felswand wachsen. Während ich mir die Wasserpflanzen in den Mund schiebe, mache ich mich auf den Weg zum Gen-Labor. Unterwegs komme ich an der Destillationsanlage vorbei. Hier wird Trinkwasser hergestellt. Durch das Salz des Meeres verschleißt sie jedoch schnell, und es wird hektisch an Ersatzteilen gebaut. Wir haben allerdings in Himalaya kaum Material dazu. So leben wir als Homo sapiens survival ständig mit der Angst, auszusterben.
 Neben der Destillationsanlage befindet sich der „Garten Eden“. Hier wird alles angebaut, was Sauerstoff liefert. Er liegt zu Zweidritteln unter Wasser, um Algen anzupflanzen. „Garten Eden“ liefert uns die Luft zum Atmen. Über verschiedene Rohre wird der Sauerstoff zum Teil in die unmittelbare Umgebung, zum Teil in unsere Höhlensysteme geleitet. Nach zehn Minuten erreiche ich das Gen-Labor. Ich bin früh dran. In der Kantine sitzen erst wenige Menschen. Ich entdecke meinen Erzeuger und setze mich neben ihn, nachdem ich mir mein Frühstück geholt habe. „Die könnten auch mal etwas kreativer in ihrer Menüwahl sein“, scherze ich und nippe an meinem Wasser. Es sind genau dreihundert Milliliter – die morgendliche Ration.
 Mein Erzeuger runzelt die Stirn. Vielleicht versteht er meinen Witz nicht. Wieder einmal frage ich mich, wie es ist, richtige Eltern zu haben. Es gibt tatsächlich noch Menschen mit leiblichen Eltern. Meine Freundin Melanie zum Beispiel wurde wirklich beim Sex gezeugt. Ohne irgendeine Gen-Veränderung – ganz natürlich. Ich weiß nicht genau, wie ich das finden soll.
„Wie findest du es, dass es noch immer Menschen gibt, die ihre Kinder durch Sex zeugen?“, frage ich meinen Erzeuger. Er muss eine Meinung dazu haben. Er ist schließlich Wissenschaftler. Übrigens heißt er Joachim.
„Es ist in Ordnung, solange nicht jeder seine Kinder so bekommt. Du weißt, was dann passieren würde, oder?“, entgegnet Joachim. „Ja, wir würden aussterben. Weil irgendwann jeder mit jedem verwandt wäre. Es gäbe eine zu geringe Gen-Variabilität. Wir würden alle Erbkrankheiten bekommen. Ein Virus könnte uns dahinraffen. Blablabla. Das weiß ich ja. Aber ich will wissen… Im Einzelfall! Wie ist das so? Kinder durch Sex zu bekommen?“ Joachim zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Ich verstehe nicht, wieso Menschen das Risiko einer Geburt auf sich nehmen. Und die Chance nicht nutzen, die genetische Vielfalt auszuweiten.“
 Ich dippe das künstliche Walfleisch in die Algensoße und kaue darauf herum. Ich mag kein Fleisch, das im Labor wächst. Es schmeckt nicht so gut wie frisches.
 „Manche Menschen haben seltsame Ansichten“, fährt er fort. „Du weißt, dass ich damit nicht Melanies Eltern meine.“ Ich erkenne die Anspielung auf die #####. Sie sind eine radikale christliche Gruppe, die sich vor einigen Jahrzehnten eine eigene Höhle baute. Sie leben isoliert von uns und betreiben Inzest. Was auch gar nicht anders geht bei ihrer Gruppengröße – sie sind insgesamt gerademal neunzehn Personen. Gestern demonstrierten sie vor dem Gen-Labor mit Plakaten, auf denen steht: „Aussterben in Würde!“ Und: „Gentechnik ist der Teufel!“
Nach dem Frühstück gehe ich ins Labor. Zuerst statte ich der Zellspende einen Besuch ab. Eine freundliche Dame entnimmt mir Gewebe. „Wir werden Sie davon unterrichten, falls wir zu irgendwelchen Durchbrüchen gelangen“, sagt sie. Es ist der Standardsatz. Und bedeutet: Wir experimentieren – was dabei herauskommt, wissen wir auch nicht.
Ich gehe weiter zu meinem Arbeitsplatz. Seit einem Jahr mache ich eine Ausbildung zur Reproduktionsassistentin. Irgendwann einmal möchte ich Menschen erzeugen – wie Joachim mich erzeugt hat. Im Augenblick darf ich jedoch nur mit Delfin-Genen experimentieren. Letzten Monat ist es mir gelungen, das Gen für die Augenfarbe durch das Gen für die Farbe einer Alge zu tauschen.
Nach Feierabend mache ich noch einen Abstecher in die Reproduktionsabteilung. Ich laufe durch die Reihen von künstlichen Plazentas und betrachte die Föten. Sie sind alle gen-verändert. Zum Teil bestehen sie aus geklonten Genen, zum Teil aus DNA anderer Spezies (Delfin wird oft verwendet) und ein Teil ist immer natürlich – also ein unverändertes Spermium oder eine unveränderte Eizelle. Neun von zehn dieser Föten werden sterben, bevor sie den dritten Monat nach ihrer Erzeugung erreichen. Danach sterben noch etwa die Hälfte der übrig gebliebenen vor der „Geburt“. Die wenigen, die tatsächlich auf die Welt kommen, sind schwach. Oft sterben sie an mysteriösen Krankheiten innerhalb des ersten Lebensjahrs. Manche entwickeln heftige Allergien. Fast alle sind unfruchtbar – so wie ich.
Auf dem Weg zum Abendessen frage ich mich, wie lange die Menschheit noch hat, bis sie tatsächlich ausstirbt. Sollte Joachim Recht haben, und es gibt noch Eis irgendwo, das die nächsten Jahre schmelzen wird, dann wird Himalaya untergehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und damit der Homo sapiens survival.       Â
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel hat keinerlei wissenschaftlichen Anspruch. Für Fehler jeglicher Art bitten wir um Nachsicht.Â