Auf der Suche nach einer neuen Ethik
Vom kategorischen Imperativ zum ökologischen Imperativ
Welche Verantwortung haben wir gegenüber der nächsten Generation? Bereits 1979 hat sich der Philosoph Hans Jonas diese Frage gestellt. Da der Mensch in der Lage sei, seine Umwelt dauerhaft zu verändern beziehungsweise ihr Schaden zuzufügen – selbst weit über seine eigene Lebenszeit und somit über seinen eigenen Horizont hinaus. Hans Jonas postuliert, dass der Mensch eine neue Ethik brauche. Immanuel Kant sei überholt, sein Kategorischer Imperativ veraltet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Denn Kant beachtet lediglich die Taten eines Individuums, welches in Gedanken behalten soll, was passieren würde, wenn jeder so handeln würde wie es selbst. Die eigene Handlung muss nach dem Maßstab einer Gesetzgebung erfolgen. Wenn ich nun beschließe zu lügen, muss ich mir die Frage stellen: Was wäre, wenn alle Menschen lügen würden? So zieht Kant die Maxime und fordert jeden Menschen dazu auf, die Folgen ihrer eigenen Handlung zu überdenken und abzuwägen.
In unserem technischen Zeitalter ist dieser Kategorische Imperativ längst überholt. Er ist blind auf einem Auge, obwohl noch anwendbar, bezieht er sich nicht auf genug Faktoren, um für die großen Fragen immer noch relevant zu sein. Denn der Mensch hat inzwischen viel mehr Macht und muss nicht mehr nur die Frage stellen, was wäre wenn alle anderen das Gleiche tun würden. Sondern auch bedenken, dass es Menschen nach ihm geben wird, und der Mensch als Wesen, dass sich größtenteils von der Natur entfernt hat, trotz allem immer noch in nahezu allen Bezügen von ihr abhängig ist.
Deshalb brauche die moderne, technische Gesellschaft eine neue Ethik, so Hans Jonas. Einen neuen Imperativ, an dem sie sich orientieren kann und die vor allem ihren Horizont erweitert, und das Überleben der Menschheit in einer Zeit der Technologie sicherstellt.
Der Ökologische Imperativ nach Hans Jonas lautet: „Handle so, dass die Wirkung deiner Handlung verträglich ist mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde.“
Hier bezieht der Philosoph sich auf zwei Parteien, die bisher keine Stimme hatten. Die aber eine Stimme und ein Recht auf Fortbestand haben müssten, um den Fortbestand „echten menschlichen Lebens“ zu sichern. Zunächst ist das die Erde an sich, denn sie wird hier explizit genannt. Voraussetzung: Die Menschheit muss auf der Erde fortbestehen. Sie ist unsere Heimat und selbst wenn wir – aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz – einen Planeten finden, den wir bewohnbar machen können, so ist die Erde immer noch unsere Heimat und vor allem auch unsere Sicherheit, dass es einen Platz gibt, an den die Menschheit zurückkehren kann.
Dann betont Hans Jonas die „Permanenz echten menschlichen Lebens“. Damit sind alle nächsten Generationen gemeint, die bisher keine große Rolle gespielt haben. Nun aber in dem Zeitalter der Technologie, in der der Mensch in der Lage ist, die Welt dauerhaft zu verändern, werden die Auswirkungen der Taten der jetzigen Generation wohl kaum von ihr selbst zu spüren sein.
Die Abrodung des Regenwaldes werde erst den übernächsten Generationen im wahrsten Sinne die Luft abschnüren. Inzwischen werde mehr Sauerstoff verbraucht als produziert. Bei dem jetzigen Tempo der Abnahme würde es ungefähr 50.000 Jahre dauern, bis der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre die 18%-Grenze unterschreitet und den menschlichen Körper vor ein echtes Problem stelle.
Auch die Auswirkungen der Klimaerwärmung, angefeuert durch den exzessiven Öl-Verbrauch und das Verbrennen von Kohle, werde wohl kaum die Generation der aktuellen deutschen Politiker mitkriegen. Aber deren Kinder und Kindeskinder: Prognostiziert sind Dürren und Naturkatastrophen, die Flüchtlingsströme nach Europa treiben. Dazu stellt die Nahrungsmittelversorgung einer wachsenden Weltbevölkerung eine der größten Herausforderungen der Menschheit.
Deshalb fordert Hans Jonas eine „Heuristik der Furcht“. Bevor ein Projekt in Angriff genommen wird, müssten Risiken und Folgen abgewogen werden. Im Zweifel muss mit dem Schlimmeren gerechnet werden. Vor allem bei Atomkraftwerken, scheint dies angebracht zu sein, da die Folgen Wirkungen haben, die so schwerwiegend und katastrophal sein können, dass sie ganze Populationen noch Jahrhunderte nach einem Unfall beeinflussen.
Hans Jonas hat seine ökologischen Thesen im Jahr 1979 veröffentlicht und gilt bis heute als einer der Begründer neuer ökologischer Verantwortung. Vor allem die Grünen bezogen sich auf seine Thesen und bauen auch heute immer noch darauf auf. Sein Ökologischer Imperativ wurde in Form einer Staatszielbestimmung im Jahr 1994 in das Grundgesetz aufgenommen. Im Artikel 20a) heißt es: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“.
Auch die UN hat sich die Verantwortung unserer jetzigen Generation gegenüber der kommenden klargemacht. Sie entwirft 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, immer mit der Zukunft der Menschheit und ihrer Heimat im Blick.
Der erste Schritt ist also getan. Dennoch geht es Hans Jonas auch um den Einzelnen. Auch wir – die jetzige Generation – und vor allem unsere Politiker müssen sich die Frage stellen: Was kann ich als Einzelner dafür tun, um die Erde meinen Nachkommen in akzeptablen Zustand zu hinterlassen?