“Das darf man ja nicht mehr sagen”
Warum gibt es aber so viele rechtsradikale Parolen auf der Straße und Beleidigungen in Social Media?
Es ist eine bewölkte Nacht. In einer Zeit, in der ein verurteilter Straftäter US-Präsident ist, es erste erste Antifa-Verbote gibt und das Unwort des Jahres 2024 „biodeutsch“ lautet. An einer Haltestelle, in einem eigentlich eher linken Viertel in Karlsruhe, steigen meine Freunde und ich aus der Straßenbahn. Nur Sekunden danach kreist uns eine Gruppe junger Männer ein. Sie sind betrunken und fragen, ob wir links sind, ob wir die Grünen wählen und ob wir uns schlagen wollen. Einer der Männer hebt immer wieder den rechten Arm und brüllt laut “Heil Hitler”.
Sie bedrängen uns, fragen, was wir in unseren Taschen haben. Überall um uns stehen Menschen, manche schauen, niemand sagt etwas. Unsere Bahn fährt ein, wir laufen durch die Gruppe Betrunkener und steigen ein. Glück gehabt. Wir rufen die Polizei an. Uns wird gesagt, dass unsere Personenbeschreibung zu ungenau sei und sie niemanden vorbeischicken werden. Dieser Vorfall hat sich im Spätsommer in Karlsruhe ereignet. Allen Betroffenen aus unserer Gruppe geht es soweit gut. Wir haben Anzeige erstattet.
Dennoch hat mich die Situation zum Nachdenken gebracht. Fast täglich sehe ich auf Social Media Menschen,die sich über Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit beschweren. Meistens geht es dabei um rassistische, queerphobe und sexistische Hintergründe von Wörtern und Menschen, die an diesen festhalten oder um Verschwörungserzählungen und Falschinformationen. Immer wieder fällt der Satz “Das darf man ja nicht mehr sagen.”
Wie kann es also sein, dass ein Mann, umgeben von Menschen, einen offensichtlich verfassungsfeindlichen Ruf krakeelt? Dass in Restaurants die Gerichte immer noch nach rassistisch beleidigenden Bezeichnungen für Menschen benannt sind? Dass Menschen unter Schutz der Polizei bei Demos zu Tausenden auf den Straßen Verschwörungsmythen und Falschinformationen verbreiten können?
Parallel dazu erleben wir, dass in den USA und in den Niederlanden ein “Antifa-Verbot” beschlossen wird. Kurz zur Erklärung: Antifa ist die Abkürzung von Antifaschismus und damit wichtiger Bestandteil einer wehrhaften Demokratie. Nach dem Verständnis von sehr Rechten und Konservativen wird hier in Deutschland die Freiheit unserer Sprache beschnitten. In einzelnen Behörden auf Bundes- und Länderebene ist das Gendern nicht zulässg.
Woher kommt jetzt aber dieses Gefühl, nicht mehr sagen zu können, was man will? Und warum beharren so viele darauf, mit diesem Gefühl richtig zu liegen? Menschen handeln nach ihren Überzeugungen, so wie sie es für gut und gerecht halten. Wer jedoch zu sehr an seinen Prinzipien und Überzeugungen festhält, sein Verhalten, seine Sprache und sich als Menschen nicht stetig reflektiert und hinterfragt. Wer die Verantwortung für sein Handeln in die Hände eines festen Wertesystems legt, das keinen Raum für Anpassungen lässt, tut das vermutlich aus Angst. Angst davor, eine “falsche Meinung” zu haben, nicht richtig zu liegen.
Es ist leichter, jemand anderem zu sagen, dass er falsch liegt, weil man nach einem seit 40 Jahren unveränderten Verständnis von Empathie, Gesellschaft und Ethik lebt, als dieses Verständnis zu hinterfragen, weiterzuentwickeln und sich einzugestehen, unrecht zu haben! Mit der Liebe des Menschen zum Vertrauten kommen häufig auch die Angst vor Neuem und die Angst durch Neues, das Vertraute zu verlieren.
Aber dieser individuelle Verlust kann ein gesellschaftlicher Gewinn sein. Wenn unsere Sprache inklusiver, unser Blick auf die Welt offener und unser Verhalten reflektierter und wertschätzender wird. Wenn wir damit anfangen, Verantwortung zu tragen.
Anmerkung. Grundlage meiner Gedanken sind diese Quellen:
- Buch “Karl Popper” von Bryan Magee, Übersetzung Arnulf Krais
- Buch “Informiert euch! Wie du auf dem Laufenden bleibst, ohne manipuliert zu werden” von Nina Horaczek, Sebastian Wiese
- Europäische Menschenrechtskonvention





